Zur geschichtspolitischen Aktualität des 30. Januar 1933
Auch achtzig Jahre nach dem eigentlichen Ereignis bleibt das historische Datum des 30.Januar 1933 Ausgangspunkt des geschichtspolitischen Streits in unserem Land. Seit 1996 hat sich die offizielle „Erinnerungskultur“ in der BRD auf den 27.Januar als nationalen Gedenktag fokussiert. Die VVN – BdA hatte damals gefordert, die Ernsthaftigkeit des neuen Gedenktages unter Beweis zu stellen. Dazu gehört nach unserer Vorstellung:
„Wer des 27. Januar 1945 gedenkt, muss auch den 30. Januar 1933 mitdenken.
Ursachen und Herkunft des Faschismus sind notwendige Bestandteile jeder Erinnerungsarbeit. …
Das Gedenken an die Opfer muss verbunden sein mit der Erinnerung daran, wer die Täter waren. Das heißt: Benennung der Schuldigen und der Nutznießer an der Errichtung der nazistischen Herrschaft in Deutschland und an der Entfesselung des Krieges.“
Diese Fragestellungen stehen besonders im Zusammenhang mit dem geschichtspolitischen Streit um den 30.Januar 1933 im Zentrum. Dabei drückt sich die eigene Perspektive bereits in den unterschiedlichen Begrifflichkeiten aus, mit denen dieses Datum beschrieben wird: „Tag der Machtübernahme“, „Tag der Machtübertragung“, „nationale Revolution“ u.a. Die jeweiligen Begrifflichkeiten korrespondieren mit einer geschichtspolitischen Interpretation, die auch die Gesamteinschätzung der historischen Periode des deutschen Faschismus beinhaltet. Während die „Machtübernahme“ das aktive, quasi gewalttätige Handeln der Nazis gegen die Regeln der Weimarer Republik behauptet, beschreibt „Machtübertragung“ den tatsächlichen Vorgang der Machteinsetzung Hitlers als Reichskanzler ohne Parlamentsvotum und tatsächliche Mehrheitskoalition. Der Begriff „nationale Revolution“ dagegen entstammt faktisch der faschistischen Selbstbeschreibung. Deren Übernahme akzeptiert die damit verbundene Interpretation, dass ein „revolutionärer Bruch“ mit den Grundlagen der Weimarer Republik stattgefunden habe. Gleichzeitig setzt auch dieser Begriff das unabhängige Handeln der faschistischen Akteure in Gegnerschaft zu den Weimarer Eliten voraus.
Da mit zunehmendem historischen Abstand und der Wirksamkeit der geschichtspolitischen Hegemonie der konservativen Interpretation grundlegende historische Erkenntnisse zu verschütten drohen, scheint es sinnvoll zu sein, in der gebotenen Kürze die gesellschaftlichen Interessen und Konstellationen auf dem Weg zum 30.Januar 1933 nachzuzeichnen.
Wie verhielten sich die gesellschaftlichen Eliten gegenüber der Weimarer Republik?
Wenn man nicht behaupten will, dass „Hitler ein Betriebsunfall der Geschichte“ gewesen oder der 30.Januar „schicksalhaft“ über unser Land gekommen sei, wird man nicht umhinkommen, sich mit den gesellschaftlichen Kräften zu beschäftigen, die ein Interesse an der Errichtung und Etablierung der faschistischen Herrschaft hatten. (vgl. Reinhard Kühnl, Die Weimarer Republik, Reinbeck, 1985, S.205 ff) Die Frage des Interesses bedeutet dabei nicht, dass jedes einzelne Mitglied einer Gruppe das Gesamtinteresse ungebrochen vertreten musste, aber es war die vorherrschende Tendenz, die insbesondere von den hegemonialen Kräften vertreten wurden.
Unter dieser Einschränkung ist es unstrittig, dass eine der zentralen Gruppen, die eine große Offenheit gegenüber der faschistischen Bewegung hatte, das Militär war. Obwohl auf die Weimarer Verfassung vereidigt, hatten die einflussreichen Kreise der Reichswehr, die sich im Truppenamt befanden, schon Mitte der 20er Jahre eine Strategieplanung begonnen, die von den Möglichkeiten einer aggressiven Außenpolitik zur Revision der Gebietsverluste durch den Ersten Weltkrieg ausging. (vgl. Carl Dirks/ Karl-Heinz Janßen, Der Krieg der Generäle, Hitler als Werkzeug der Wehrmacht, Berlin 1999)
Hatten schon zu Zeiten des Kapp-Putsches und der Hitler/ Ludendorff-Aktion 1923 Teile der Reichswehrführung mit den antidemokratischen Kräften nicht nur sympathisiert, sondern kooperiert, so entwickelte die Reichswehr in den folgenden Jahren eine Eigenleben, das ihr einerseits Handlungsspielraum gegenüber der Reichsregierung und andererseits eine Offenheit gegenüber anderen – nicht in der Regierung beteiligten – Rechtskräften ermöglichten. Dabei suchte sich die Reichswehrführung Unterstützer für ihre politischen Optionen – so lange sie aus der Regierung kamen, war das akzeptiert, als diese Unterstützung zweifelhafter zu werden schien, suchte man weitere Verbündete unter den Rechtskräften. Manche Historiker glauben der Reichswehr ein republiktreues Verhalten unterstellen zu können, da die Führung mit der jeweiligen Reichsregierung kooperierte. Doch diese „Republiktreue“ fand dort ihre Grenze, wo die Interessen der Reichswehr scheinbar infrage gestellt wurden.
Dieses Prinzip galt auch gegenüber der faschistischen Bewegung. Man grenzte sich dort ab, wo Ansprüche von SA und der Brüder Strasser gegen die traditionellen Strukturen der Reichswehr formuliert wurden („SA als neues Volksheer“, Kritik an der „reaktionären Haltung“ der Reichswehr-Führung, die eine Adelstruppe sei etc.). Man kooperierte dort, wo die langfristigen strategischen Optionen der Reichswehr unterstützt wurden, wie in der Harzburger Front und in dem Gespräch Hitlers mit der Reichswehrführung im Februar 1933.
Ein ähnliches Verhältnis hatten bekanntlich die führenden Vertreter des deutschen Kapitals, seien sie von den Banken, der chemischen und Elektroindustrie (Angesichts der umfangreichen Literatur, die besonders von der DDR-Geschichtsforschung vorgelegt worden war, verweise ich für das Folgende nur auf die Autoren Eberhard Czichon, Dietrich Eichholtz, Kurt Gossweiler, Kurt Pätzold, Manfred Weißbecker u.a.). Einzig die Schwerindustrie, die sich aus einer Rüstungskonjunktur unmittelbaren Profit versprach, war von Anfang an auf der Seite der NSDAP (vgl. Fritz Thyssen: I paid Hitler). Wie jedoch der Auftritt Hitlers vor dem Düsseldorfer Industrieklub im Januar 1932 belegte, waren auch die anderen Wirtschaftsgrößen weitgehend bereit, der Zielvorstellung der NSDAP zu folgen.
Ihnen bot die Labilität der politischen Verhältnisse der Weimarer Republik zwar wenige Staatseingriffe, jedoch fehlten ihnen die staatsinterventionistischen Maßnahmen, wie beispielsweise die Übernahme von Entwicklungskosten oder die Risikoabsicherung von Investitionen durch Staatsbürgschaften. Auch war – trotz verheerender Wirtschaftskrise – die Gewerkschaftsbewegung immer noch so einflussreich, dass weitergehende Ziele, wie Lohnabbau und Zerschlagung aller sozialen Sicherungssysteme unter den Bedingungen einer Demokratie nur unzureichend umsetzbar schienen. Die Beziehungsnähe wurde auch dadurch verstärkt, dass trotz aller pseudorevolutionären Rhetorik die SA und die anderen faschistischen Organisationen sich als willfährige Werkzeuge der Unternehmensinteressen in Klassenkämpfen und sozialen Auseinandersetzungen darstellten.
Auch andere gesellschaftliche Organisationen, unter ihnen große Teile der evangelischen Kirche, unterstützten die faschistischen Kräfte. Zwar gab man sich offiziell distanziert, gleichzeitig waren jedoch viele Pfarrer und Kirchenoffizielle beeindruckt durch die „neue gesellschaftliche Bewegung“, in der sie „viel religiöses Wollen“ glaubten feststellen zu können, durch die sie eine Zurückdrängung des „gottlosen Bolschewismus“ erhofften. (vgl. Ulrich Schneider, Zwischen freudigem Ja und antifaschistischem Widerstand, Kassel, 1985, S. 25 ff)
Auch im traditionell konservativ dominierten akademischen Milieu fand die faschistische Bewegung zahllose Mitstreiter. Zwar waren es weniger die akademischen Lehrer selber, als vielmehr die Studierenden und der akademische Mittelbau, die die NSDAP und ihre Untergliederungen unterstützten, jedoch waren damit die Universitäten eine der wichtigsten Institutionen, die der gesellschaftlichen Durchsetzung der faschistischen Bewegung Vorschub leisteten. (vgl. Hans Peter Bleuel, Deutschlands Bekenner, Bern-München-Wien 1968)
Es ist bezeichnend und für die geschichtspolitische Diskussion von Bedeutung, dass in allen vier Bereichen: Militär, Kapital, Kirchen und Universitäten die Aufarbeitung der Eingebundenheit in die faschistische Machtübertragung nur sehr zurückhaltend oder stark apologetische betrieben wird. Beiträge marxistischer Autoren, die die unmittelbare Verbindung dokumentarisch belegten, wurden auf juristischer Ebene – wie der Fall Eberhard Czichon und die Deutsche Bank zeigte (vgl. Eberhard Czichon, Deutsche Bank – Macht – Politik, Köln 2001, S. 268 ff) – oder durch Ausgrenzung aus dem akademischen Diskurs versucht Mund tot zu machen. Zugänge zu betrieblichen Archiven wird vor allem „Haushistorikern“ gewährt, die eine Gewähr dafür bieten, dass ein genehmes Geschichtsbild entsteht.
Die gleiche „Abstinenz“ legt die herrschende Geschichtsbetrachtung den gesellschaftlichen Gruppen und Personen gegenüber an den Tag, die sich dem Vormarsch der faschistischen Bewegung widersetzt hatten. Wenn von solchen Kräfte überhaupt die Rede ist, dann sind es einzelne „kritische Stimmen“ im bürgerlichen Lager, vielleicht noch die „liberale“ „Frankfurter Zeitung“, Stellungnahmen von Politikern der DDP bzw. Staatspartei oder einzelne Sozialdemokraten, wie Wilhelm Hoegner, der ehemalige Bayerische Ministerpräsident (z.B. seine Erinnerungen „Flucht vor Hitler“). Der tatsächlich geleistete Widerstand der Arbeiterbewegung in seiner ganzen Breite, besonders der kommunistischen Anhänger, wird – wenn man ihn nicht vollständig ignoriert – mittlerweile wieder unter der Kategorie „Streit zwischen Rechts und Links“ subsummiert. Mit dem Ende der DDR wurden bereits erreichte realistischere Sichtweisen in der populärgeschichtlichen Darstellung (vgl. u.a. Guido Knopp/ Bernd Wiegmann, Warum habt ihr Hitler nicht verhindert?, Frankfurt/M. 1983; Es gab nicht nur den 20.Juli, Wuppertal 1984) , die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der ideologischen Konkurrenz mit der DDR-Geschichtsforschung entstanden waren, weitestgehend verdrängt.
Dabei lässt sich die historische Tatsache nicht leugnen, dass es dem Einsatz vieler Tausender Arbeiter und Angestellter, Mitgliedern der Gewerkschaften und der Arbeiterparteien, die in Massendemonstrationen und in öffentlichen Protesten gegen die NSDAP aufgestanden sind, zu danken ist, dass es überhaupt gesellschaftliche Gegensignale gegeben hat. Und ihre Aktionen fanden nicht erst in den letzten Monaten der Weimarer Republik statt sondern schon lange vor dem kometenhaften Aufstieg der NSDAP im Jahr 1930. Gegen den Straßenterror der SA wurden vielfältige Formen des „roten Massenselbstschutzes“ organisiert, Aktionen vor den Stempelstellen trugen dazu bei, Erwerbslose gegen faschistische Propaganda zu immunisieren, Großdemonstrationen setzten politische Signale gegen den Vormarsch des Faschismus.
Woran scheiterte die Weimarer Republik?
Ursachenbeschreibung als geschichtspolitische Setzung
Eine zentrale Frage im geschichtspolitischen Diskurs ist die Benennung der Ursachen für den 30.Januar 1933. Je nach politischer Position finden sich unterschiedliche Aspekte im Zentrum der Betrachtung. Eine „Standard-Antwort“ findet man unter der Überschrift „Wirtschaftskrise“. Unstrittig war die ökonomische Krise Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre eine zentrale Ursache für die Destabilisierung der Weimarer Republik. Firmenpleiten, Massenarbeitslosigkeit, Kurseinbrüche an der Börse und andere Indizes der Krise der kapitalistischen Wirtschaft führten zu großen gesellschaftlichen Spannungen, aber ursächlich für den politischen Zusammenbruch waren sie nicht. Sie zeigten vielmehr, dass ein auf dem Profitprinzip beruhendes Wirtschaftssystem die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen in keiner Weise zufrieden stellen kann. Daraus ergaben sich Erkenntnisgewinne in Teilen der Arbeiterbewegung, die die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen beförderte.
Da damit auch eine Zunahme revolutionärer Bewegungen verbunden war, verstärkte sich in den herrschenden Eliten die Überlegung, einen reaktionären Ausweg aus der Krise zu favorisieren. Die Wirtschaftskrise bietet damit indirekt schon eine Erklärung für den Weg in den Faschismus, nur ist die Begründung deutlich anders gewichtet, als es in den vorherrschenden Geschichtsdeutungen getan wird.
Eine weitere Ursache für das Scheitern der Weimarer Republik wird darin gesehen, dass die Eliten der Republik zu wenig Unterstützung für die demokratischen Prinzipien an den Tag gelegt hätten. Weimar sei eine „Republik ohne Republikaner“ gewesen. In der Tat war die politische Verankerung der Demokratie in den herrschenden Kreisen wenig ausgeprägt. Das hatte jedoch weniger etwas mit dem Fehlen von Republikanern zu tun als vielmehr mit der Genese der Weimarer Republik als revolutionärer Akt gegen die Eliten des Kaiserreiches. Die bürgerlichen Kräfte, denen im Gefolge der niedergeworfenen Novemberrevolution die politische Macht zufiel, verstanden sich nicht als bewusste gesellschaftsgestaltende Akteure, sondern blieben mit den alten Strukturen eng verbunden. Sie ließen es zu bzw. beförderten es teilweise sogar, dass die alten Eliten, die mit den republikanischen und demokratischen Grundlagen nicht das Geringste verband, wieder in politische Herrschaftsbereiche von Militär, Wirtschaft und staatlichen Institutionen aufrücken konnten. Damit „verschwanden“ nicht die Republikaner, sondern sie ließen den Machtzuwachs der republikfeindlichen Kräfte zu.
Eine Argumentation, die zeitweilig in den Hintergrund gedrängt werden konnte, die jedoch auf der antikommunistisch begründeten Totalitarismus-These beruhend eine politische Renaissance feiert, ist die Behauptung, die Weimarer Republik sei zwischen Rechts und Links zerrieben worden. (Schon 1987 durfte Hans –Helmuth Knütter diese These in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung reaktivieren, vgl. Bracher/ Funke/ Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1919-1933, Bonn 1987, S. 387 ff) Es ist hier nicht der Platz die Standard-Belege für diese These im Einzelnen zu widerlegen. Angeführt werden Saal- und Straßenschlachten, so als seien die Aggressionen gleichermaßen zwischen den beteiligten Gruppen verteilt gewesen. Angeführt werden die Abstimmungen im Reichstag über die Misstrauensvoten gegen die Regierungen, so als habe es bis dahin funktionierende parlamentarische Mehrheitsverhältnisse und Kontrollen gegeben, die durch „die Extremisten von Rechts und Links“ außer Kraft gesetzt worden seien. Der wohl bekannteste „Beleg“ für diese These ist der Verweis auf den Berliner Verkehrsarbeiterstreik, der als „gemeinsame Kampfaktion von RGO und NSBO gegen Weimar“ deklariert wird. Abgesehen davon, dass dieser Kampf gegen Lohn- und Sozialabbau geführt wurde, nicht gegen die Weimarer Republik, ist es seit langem bekannt, dass sich die NSBO gezwungen sah, sich der Bewegung der Beschäftigten anzuschließen, um sich in Berlin nicht politisch zu isolieren. Auch ist das politische Resultat des Streiks bekannt, dass nämlich einerseits ein – wenn auch bescheidener – sozialpolitischer Erfolg erzielt, zum anderen der politische Einfluss der NSDAP bei der Reichstagswahl wenige Tage später erkennbar zurückgedrängt werden konnte.
Wenn man die vorherrschende Literatur zum 30.Januar betrachtet, dann taucht immer wieder als Begründung für die Machtübertragung an Hitler und die NSDAP das Argument auf, Reichspräsident Hindenburg sei ein „seniler Greis“ gewesen, der die politische Dimension seiner Entscheidung nicht mehr überblickt habe. Außerdem habe er schlechte Berater gehabt. Eine solche Behauptung ignoriert, dass Hindenburg – selbst als „kleineres Übel“ gegen Hitler im Jahr 1932 gewählt – niemals ein Anhänger der Republik war. Sein Denken war geprägt durch den Mythos der „Dolchstoß-Legende“ von autoritären Staatsmodellen und der Sorge, dass seine persönliche Bereicherungspraxis durch die „Osthilfe“ für die Rittergutsbesitzer durch eine parlamentarische Kontrolle ruchbar werden könnte. Ihm war die Republik so wenig wert, dass er bereit war, sie seinen persönlichen Interessen zu opfern. Hindenburg war damit nur ein typischer Repräsentant der reaktionären Eliten des deutschen Kaiserreichs, die in der Republik wieder zu Macht und Einfluss gekommen waren, die ihr Zielvorstellung in der Errichtung einer autoritären Herrschaft sahen. Nicht umsonst hatte Hindenburg nach der Ablösung der sozialdemokratischen Regierung Müller das Mittel der Notverordnungspolitik zur Aushebelung der parlamentarischen Kontrolle extensiv umgesetzt. (vgl. dazu Kurt Pätzold/ Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP, Köln 1998)
Eher dem Bereich der Psychologie zuzuordnen ist die These, Hitler habe mit schier unbändigem Führerwillen die Macht an sich gerissen. Unterstützung erfahren diese Behauptungen durch neuere Veröffentlichungen, die sich mit der Frühzeit und Psyche Adolf Hitlers beschäftigten. So anregend manche dieser Untersuchungen auch sein mögen, solche Thesen gehen von der idealistischen Vorstellung aus, ein Einzelner könne – wenn er es denn nur intensiv genug wolle – irgendwelche Machtpositionen in Staat und Gesellschaft erreichen, ohne dass die politischen und gesellschaftlichen Eliten ihn und sein Anliegen stützen bzw. zumindest jedoch tolerieren. Solche Thesen entsprechen den „Idealvorstellungen“ von Anhänger der „Konservativen Revolution“ der Weimarer Zeit, die demokratische Prinzipien in einer Gesellschaft ablehnten und gegen die Realität der Weimarer Republik Elite – Konzeptionen, eine „Herrschaft der Besten“ setzten. Der „Führer“-Anspruch Hitlers bedeutet in dieser Perspektive die Vollendung des „Elite-Konzepts“.
Eine solche These läuft jedoch heute auf eine Entlastung der politischen Eliten der Weimarer Zeit hinaus, die für sich in Anspruch nahmen, dass sie sich diesem Führerwillen nicht hätten entziehen können. Ideologisch gesehen stützt eine solche Aussage darüber hinaus die „Einzeltäter Hitler“ – These, die nach 1945 oftmals als Entlastung des eigenen angepassten oder aktiven Handelns herhalten musste.
Selbst der schon in den 60er Jahren in der angelsächsischen Geschichtsdiskussion entstandene „Modernization“ – Ansatz bekommt seit einigen Jahren in der geschichtspolitischen Debatte wieder größeren Einfluss. Dieser Ansatz impliziert, dass die Errichtung der faschistischen Herrschaft in Deutschland zu einem Modernisierungsschub, quasi zu einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse geführt habe. Geschichtsrevisionisten akademischer Provenienz entwickelten daraus die „moderne Variante“ des Begriffs der „nationalen Revolution“. Ende der 90er Jahre stellte sich für Karlheinz Weißmann, Rainer Zitelmann und andere geschichtsrevisionistisch orientierte „Jungakademiker“ dabei die Errichtung der faschistischen Herrschaft als Prozess revolutionärer Überwindung der „maroden Republik“ von Weimar dar. Die Unzulänglichkeiten und die fehlende Akzeptanz des parlamentarischen Systems von Weimar wurde als Beleg der Instabilität herangezogen, weswegen eine „revolutionäre Überwindung“ fast schon logisch gewesen sei. Angesichts des dann folgenden „Modernisierungsschubs“ in der deutschen Gesellschaft könne man tatsächlich von „Revolution“ sprechen. Solche Argumentation bildet den Einstieg in eine Entlastung des deutschen Faschismus von seinen menschenverachtenden Verbrechen, die Voraussetzung zur „Entsorgung der Geschichte“. (vgl. Backes/ Jesse/ Zitelmann, (Hrsg.) Die Schatten der Vergangenheit, Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Berlin 1990)
Wie kann politische Erinnerungsarbeit heute aussehen?
Vier Fragen für die politische Handlungsfähigkeit
Schon im Zusammenhang mit dem Historikerstreit von 1987 formulierte der Erlanger Historiker und damalige Berater von Helmut Kohl, Michael Stürmer, dass derjenige die Geschichte besitze, der die Begriff prägt und die Inhalte besetzt. Diese Aussage besitzt auch in der geschichtspolitischen Debatte um den 30.Januar 1933 ihre Gültigkeit. Es ist zu klären, welche Fragestellungen aus antifaschistischer Perspektive vorrangig zu diskutieren sind.
1) Die politisch brisanteste Frage ist sicherlich die Haltung der jeweiligen Gruppen der gesellschaftlichen Eliten zur Weimarer Demokratie. Es gilt zu untersuchen und in der geschichtlichen Debatte zu klären, welche Gruppen welches Interesse an der Bewahrung oder der Zerstörung von Demokratie und Republik hatten. Auch heute stellt sich die Frage, wie die politisch und ökonomisch Mächtigen mit demokratisch – parlamentarischen Prinzipien umgehen. Es ist noch nicht vergessen, dass die Bundesregierung zur Durchsetzung ihrer Kriegspolitik einzelne Abgeordnete ihrer Fraktion massiv unter Druck gesetzt hatte, dass der Vertreter des BDI die Aufhebung des föderalen Prinzips der BRD forderte, da hierdurch die ungehinderte Durchsetzung von Kapitalinteressen erschwert würde, dass Politiker unterschiedlicher Parteien sich eher den Interessen von Lobbyisten unterordneten, als die Bedürfnisse ihrer Wähler ernst zu nehmen.
2.) Es geht um die Beschäftigung mit der Frage, welche Konsequenzen Sozialdemontage und Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten für die politische Stabilität einer Gesellschaft haben. Immer wieder wird zurecht betont, die Republik von Weimar sei nicht die Bonner bzw. Berliner Republik. Dennoch ist zu klären, in welchem Zusammenhang längerfristige soziale Ausgrenzungen und Perspektivlosigkeit für ganze Generationen junger Menschen mit politischer Rechtsentwicklung stehen. Hier ist nicht einer mechanistischen Argumentation das Wort geredet, aber es ist andererseits auch nicht zu übersehen, dass die Virulenz von Rassismus und Antisemitismus, die Offenheit gegenüber neofaschistischer sozialer Demagogie dort besonders groß ist, wo solche Politik das Leben der Menschen nachhaltig bestimmt wie besonders in den neuen Bundesländern.
3.) Eine grundsätzliche Frage lautet, in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickelt, in der die Arbeiterbewegung – und zwar nicht allein ihre revolutionäre Richtung – als Feindbild angesehen wird. Selbst wenn sich die gegenwärtige Gewerkschaftsbewegung nicht durch besonders regierungskritische Stellungnahmen profiliert, hat es jedoch Auswirkungen auf das politische Profil dieser Republik, wenn das Handeln der organisierten Arbeiterbewegung nicht allein in Tarifauseinandersetzungen als Bedrohung des Staates angesehen wird. Die Ausgrenzung und politische Denunziation von gesellschaftskritischen Positionen als verfassungsfeindlich und deren Observierung durch „Staatsschützer“ entspricht zwar nicht der Verfassung, macht aber deutlich, dass Linke – trotz aller Unterschiede zu Weimar oder zum Kalten Krieg in der Adenauer-Ära – bis heute als Feindbild gesehen werden. Wie im Kontext der ideologischen Abwicklung der DDR gezeigt, wird damit versucht alle sozialistischen Vorstellungen und Perspektiven zu delegitimieren.
4.) Eine tagesaktuelle Frage ist, ob Toleranz gegen Nazis ein Gebot der Demokratie sei oder nicht vielmehr sich aus den historischen Erfahrungen die Konsequenz ergibt, der extremen Rechten keinerlei Freiräume zuzugestehen. Denn der Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen, wie es in vielen Demonstrationen heißt. Damit verbunden ist die Frage, wann und welche Form von Widerstand notwendig ist. Die Erfahrungen der Weimarer Republik haben deutlich gemacht, dass nur die gemeinsam handelnde Arbeiterbewegung im Bündnis mit allen demokratischen Kräften, also breite antifaschistische Bündnisse in der Lage sind vorbeugenden Widerstand zu leisten, verhängnisvolle Entwicklungen für die Gesellschaft zu verhindern. Der 30.Januar 1933 kann damit ein wichtiger Impuls für die Entwicklung von antifaschistischer Bündnispolitik heute sein.
Auf diese Fragen bekommt man Antworten aus den Erfahrungen der Jahre 1932/33, die in dem antifaschistischen Konsens der Jahre 1945/47 ihren Niederschlag gefunden haben. In den Programmen von Parteien, Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Organisationen wurden vor dem Hintergrund der Forderung: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ politische, ökonomische und soziale Alternativen für den gesellschaftlichen Neubeginn formuliert, die eine Wiederholung des verhängnisvollen Weges der Weimarer Republik verhindern sollten. Daher ist es gleichermaßen bedeutend, im Kontext der geschichtspolitischen Diskussion um den 30.Januar 1933 die politischen Programme des antifaschistischen Neubeginns der Jahre 1945/47 in den Blick zu nehmen. Hier formulierten die Nazigegner ihre Zukunftsorientierungen für „die Vernichtung des Nazismus und den Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit“, wie es im „Schwur von Buchenwald“ vom 19.April 1945 hieß. Dieses Vermächtnis bleibt auch 70 Jahre nach der Errichtung der faschistischen Herrschaft in Deutschland aktuell.
Solche Geschichtsarbeit ist mehr als Erinnerungsarbeit, sie ist Teil des aktuellen politischen Streits. So wird Geschichtsarbeit, das politische Erinnern zur Orientierung für antifaschistisches Handeln heute und morgen.
Ulrich Schneider