Die NSDAP und die Reichstagswahlen vom 14. September 1930
„Ein schwarzer Tag für Deutschland!“1
Die NSDAP und die Reichstagswahlen vom 14. September 1930
Der 14. September des Jahres 1930 markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Weimarer Republik. An diesem Tage waren die Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, einen neuen Reichstag zu wählen.2 Das Ergebnis dieser Wahlen war sensationell und führte zu heftigen Reaktionen im In- und Ausland.
So verlor zum Beispiel die Deutsche Reichsbank durch den Abzug von Auslandskapital innerhalb kürzester Zeit Devisen- und Goldreserven im Werte von mehreren Hundert Millionen Reichsmark.3 Was war geschehen, um derart panikartige Handlungen zu provozieren?
Völlig unerwartet war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), die bei den vorangegangenen Reichstagswahlen am 20. Mai 1928 lediglich 2.8 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, zur zweitstärksten Partei nach der SPD avanciert. Mehr als 6,4 Millionen Wählerinnen und Wähler – das entsprach 18,3 Prozent der abgegebenen Stimmen – hatten der faschistischen Partei ihr Vertrauen ausgesprochen und damit das Parteiensystem und das politische Kräfteverhältnis der Weimarer Republik in einer bisher nicht gekannten Weise verändert. Dieser beispiellose Aufstieg einer politischen Partei hatte vielfältige Ursachen, die letztlich in den zu Beginn der dreißiger Jahre veränderten Existenzbedingungen der Weimarer Republik begründet waren.
Weltwirtschaftskrise, Sozial- und Demokratieabbau
Die kapitalistische Weltwirtschaftskrise, die mit den dramatischen Kursstürzen am 24. Oktober 1929 an der New Yorker Börse („Schwarzer Freitag“) ausgelöst worden war, hatte längst auch Deutschland erreicht. So hatte zum Zeitpunkt der Reichstagswahlen im September 1930 die Zahl der Arbeitslosen, von denen nur knapp die Hälfte von der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung finanzielle Unterstützung erhielt, bereits die Drei-Millionen-Grenze überschritten, hatten sich Löhne und Gehälter vieler Arbeiter und Angestellter reduziert, gab es immer häufiger Pfändungen bei Kleinbauern und Kleingewerbetreibenden sowie Exmittierungen in den Arbeiterwohngebieten. Kurzum: Not und Elend gehörten im Jahre 1930 für immer größere Teile der Bevölkerung zur Alltäglichkeit.
Die den christlichen Gewerkschaften nahe stehende Tageszeitung „Der Deutsche“ schilderte im Juni 1930 in eindrucksvoller Weise die Nöte der Arbeitslosen: „Wie viele Tränen werden in diesen Tagen geweint, wie viel Elend sitzt jetzt gehäuft in den Dachkammern der Mietskasernen. Kein Schriftsteller kann die Tragödien schildern, die sich hier täglich abspielen. Die Arbeitslosigkeit entmenscht die Menschen. Je feiner sein Nervensystem ist, desto rascher wird es von den täglichen Sorgen zerrieben, bis schließlich sein Träger nicht mehr weiter kann. Je größer das Heer der Erwerbslosen, desto größer wird auch die Zahl derjenigen, die dem Tod einem Leben voller Entbehrung, Not und Enttäuschung vorziehen.“4
Die vom Zentrumspolitiker Heinrich Brüning seit dem 30. März 1930 geführte Reichsregierung, die ein vom Sozialdemokraten Hermann Müller geführtes Koalitionskabinett abgelöst hatte, machte in den ersten sechs Monaten ihrer Existenz keinerlei Anstalten, um die wachsende Verelendung einzudämmen. Ganz im Gegenteil bestand die Leitlinie der Brüningschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in horrenden Haushaltskürzungen, im kontinuierlichen Abbau der Leistungen aus den gesetzlichen Sozialversicherungen sowie in der Kürzung von Löhnen und Gehältern sowohl im öffentlichen Dienst als auch im privaten Gewerbe.5
Deshalb gelang es Brüning auch nicht, zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Kanzlerschaft eine stabile Massenbasis im Volke und eine verlässliche Mehrheit im Reichstag zu erringen. Nur eine immer kleiner werdende Minderheit der Bürgerinnen und Bürger, die kaum über die Reihen seiner eigenen Partei, des katholischen Zentrums, hinausreichte, vermochte einem Reichskanzler zu vertrauen, der offensichtlich das Schicksal der nach Millionen zählenden Notleidenden nicht abwenden oder zumindest mildern wollte, sondern es durch „Sparbeschlüsse“, die in immer neuen Notverordnungen des Reichspräsidenten formuliert wurden, mit herbeigeführt hatte oder verschlimmerte.
Gleichzeitig nahm die Bedeutung des Reichstages als legislatives Verfassungsorgan beständig ab, konnte von einer „parlamentarischen“ Demokratie immer weniger die Rede sein. 1930 standen fünf Notverordnungen noch 98 vom Reichstag verabschiedete Gesetz gegenüber. 1931 waren es bereits 41 Notverordnungen im Vergleich zu 34 Reichsgesetzen. Auch daran erwies sich: Sozial- und Demokratieabbau bildeten eine untrennbare Einheit in der Politik Brünings.
Nur zwei Tage nach dessen Amtsantritt hatte Walther Funk, Chefredakteur der einflussreichen „Berliner Börsen-Zeitung“ und im „Dritten Reich“ von 1938 bis 1945 Reichswirtschaftsminister und Reichsbankpräsident in Personalunion, hellsichtig diese doppelte Aufgabenstellung des neu installierten Kabinetts formuliert: „Die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland sind so schwierig und von so schicksalhafter Bedeutung, dass sie nur von einer starken, durch Parteirücksichten nicht gehemmten Regierungsgewalt und nur ganz systematisch und rigoros von einer zentralen Macht- und Kraftstelle aus gelöst werden können. Unser politisches System muss eine grundlegende Erneuerung erfahren.“6
Im gleichen Sinne äußerte sich Fritz Klein, der Chefredakteur der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, deren Eigentümer Großindustrielle aus dem Ruhrgebiet waren: „Das Kabinett Brüning darf keine Episode bleiben, denn es schlägt jetzt die Entscheidungsstunde für das gesamte Bürgertum, die nicht ernst genug genommen werden kann. Diejenigen verkennen die Zeichen der Zeit, die heute noch behaupten, es sei notwendig, die Sozialdemokratie mit dem Staat zu versöhnen. Diese Taktik ist längst abgeschlossen und historisch erledigt.“7
Nazi-„Probebühne“ Thüringen
Der NSDAP war es mittlerweile gelungen, sich von einer kleinen, von vielen Zeitgenossen nicht ernst genommenen Partei, zu einer eigenständigen Kraft im politischen Leben der Weimarer Republik zu entwickeln. Gar so überraschend konnte der Erfolg der Nazis bei den Reichstagswahlen deshalb für aufmerksame politische Beobachter nicht sein.
Seit dem 23. Januar 1930 trug die faschistische Partei bereits Regierungsverantwortung im Lande Thüringen, nachdem sie bei den voran gegangenen Landtagswahlen im Dezember 1929 11,9 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnte. Der spätere Reichsinnenminister und „Reichsprotektor von Böhmen und Mähren“, der 1946 als Kriegsverbrecher in Landsberg hingerichtete Wilhelm Frick, wurde hier mit den Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), des Reichslandbundes, der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Wirtschaftspartei – Reichspartei des Deutschen Mittelstandes ausgerechnet zum Minister für Volksbildung und Inneres gewählt.
In einem Brief vom 2. Februar 1930 formulierte Adolf Hitler zwei wesentliche Ziele der Frickschen Tätigkeit in Thüringen: „Eine langsame Säuberung des Verwaltungs- und Beamtenkörpers von den roten Revolutionserscheinungen“ sowie die Indienstnahme des Schulwesens für die „Erziehung des Deutschen zum fanatischen Nationalisten.“8 Mit der Errichtung eines Lehrstuhls für so genannte Rassenfragen und Rassenkunde an der Universität Jena, der mit dem Nazi-Ideologen Dr. Hans Günther besetzt wurde, mit einer gegen sozialdemokratische Beamte gerichteten Personalpolitik, mit Verboten gegen kommunistische und sozialdemokratische Zeitungen9, mit der Einführung des Schulgebetes sowie mit einer Verordnung gegen das Abspielen von Jazzmusik bei öffentlichen Tanzveranstaltungen10, konnten sich Frick und die NSDAP zweifelsohne Sympathien großer Teile des bürgerlichen Lagers sicher sein.
Besonders rigoros vollzog Frick seine Personalpolitik innerhalb der thüringischen Polizei: die Listen mit jungen Polizei-Anwärtern wurden den NSDAP-Ortsgruppen vorgelegt, die zu überprüfen hatten, ob sich unter ihnen Sozialdemokraten oder andere politisch missliebige Personen befanden. Zugleich wurden innerhalb der Polizei-Dienststellen Zellen der faschistischen Partei organisiert.11 Dass die Kasernen der Schutzpolizei mit Hitler-Porträts „geschmückt“ wurden, sei nur am Rande erwähnt.
„Gesellschaftsfähig“ war die Nazipartei bereits durch die gleichberechtigte Teilnahme an dem im Juli 1929 konstituierten „Reichsausschuss für das deutsche Volksbegehren“ gegen den Youngplan geworden, der die von Deutschland an die Siegermächte des 1. Weltkrieges zu zahlenden Reparationsleistungen neu regelte.12 Die NSDAP agierte hier öffentlich auf gleicher Stufe mit Massenorganisationen wie zum Beispiel dem Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten, der Deutschnationalen Volkspartei und dem Reichslandbund, dem mächtigen agrarischen Interessenverband, in dem die Großgrundbesitzer den Ton angaben. Hitler persönlich sah sich „auf Augenhöhe“ mit dem umtriebigen DNVP-Vorsitzenden und Medienzaren der Weimarer Republik, Alfred Hugenberg, mit den beiden einflussreichen Führern des Stahlhelms, Franz Seldte und Theodor Duesterberg sowie mit dem Grafen Eberhard von Kalckreuth, der als Präsident des Reichslandbundes zur Entourage des Reichspräsidenten von Hindenburg gehörte.
Somit mag das Ausmaß des Wahlsieges der NSDAP am 14. September 1930 überraschend und für viele Demokraten schockierend gewesen sein. Dass sich aber die Nazipartei politisch im Aufwind befand und von den etablierten bürgerlich-konservativen Parteien und Verbänden in wachsendem Maße als gleichberechtigter Partner behandelt wurde, ja in Thüringen erste Erfahrungen in Regierungsgeschäften sammeln durfte, war spätestens seit der Jahreswende 1929/1930 unübersehbar. Zuletzt sei daran erinnert, dass die NSDAP – ähnlich wie in Thüringen – im Jahr vor den Reichstagswahlen bei regionalen und lokalen Abstimmungen beachtliche Erfolge aufweisen konnte. So erreichte die Partei beispielsweise bei den Provinziallandtagswahlen in Preußen am 17. November 1929 in Schleswig-Holstein 10,3 Prozent, in der preußischen Provinz Sachsen 5,7 und in Berlin, wo am gleichen Tage die Stadtverordnetenversammlung gewählt wurde, 5,8 Prozent der Wählerstimmen. Bei den Landtagswahlen in Sachsen votierten im Juni 1930 bereits 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Nazipartei.
Für die NSDAP war das Ergebnis der Landtagswahlen in Braunschweig, die zeitgleich mit den Reichstagswahlen am 14. September 1930 durchgeführt worden waren, besonders erfreulich. Sie bescherten der Nazipartei nicht allein neun Mandate, sondern führten dazu, dass am 1. Oktober 1930 Anton Franzen, so wie Wilhelm Frick in Thüringen zu Beginn des Jahres, zum Minister für Polizeiwesen und Volksbildung gewählt wurde.13 Inzwischen existierten also bereits zwei „Probebühnen“ für die NS-Regierungsbeteiligung.
Bleibt angesichts dieser Wahlerfolge die Frage zu beantworten, aus welchen Quellen sich das ständig wachsende Wählerpotenzial der faschistischen Partei speiste.
Wer wählte die Nazis?
Woher kamen die 6.406.924 Wählerinnen und Wähler, die am 14. September 1930 ihre Stimme der faschistischen Partei gegeben hatten und 107 Abgeordnete in den Reichstag entsandten?14
Die Analysen des Wahlergebnisses zeigen eine vorzugsweise Verwurzelung der NSDAP in den selbständigen und lohnabhängigen Mittelschichten. Beamte und Angestellte unterer und mittlerer Dienstränge sowohl aus dem Staatsapparat als auch aus Industrie und Gewerbe, besonders aber Handwerker, Bauern, kleine Gewerbetreibende – einschließlich der in diesen Betrieben mithelfenden Familienangehörigen – , aber auch bisherige Nichtwähler und solche Erwerbslose und Arbeiter, die nicht in den Organisationen der Arbeiterbewegung verwurzelt waren, bildeten das Wählerpotenzial der Nazis. Auffällig ist, dass es den Faschisten gelungen war, in allen Klassen und Schichten der Bevölkerung in nennenswerter Weise Wählerstimmen zu rekrutieren. Den Schwerpunkt bildete dabei der „alte Mittelstand“, dessen Existenzängste aus den Zeiten der „Hyperinflation“ in der beginnenden Weltwirtschaftskrise wieder auflebten und der mehr als andere Bevölkerungsgruppen für die Demagogie der Nazis empfänglich zu sein schien.
Als weitgehend resistent gegenüber den Wahlversprechungen der NSDAP erwiesen sich die Katholiken und besonders die Anhängerschaft der SPD und der KPD. In den Industriezentren wuchs am 14. September 1930 sogar die Anzahl der Wählerstimmen, die für die KPD abgegeben wurden. Während sie insgesamt 13,1 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte (1928: 10,6 Prozent), avancierte sie unter anderem in Berlin (33 Prozent) zur stärksten politischen Kraft.15 Zusammen genommen hatten beide Arbeiterparteien sogar ihre Mandate gegenüber den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 von 207 auf 219 steigern können (1928: SPD 153, KPD 54 Sitze; 1930: SPD 143, KPD 76 Sitze). Resignierend stellte der Leitartikler der „Berliner Börsen-Zeitung“ in seinem Kommentar zu den Reichstagswahlen fest: „Die Tatsache besteht, dass die rote Burg des Marxismus in der gewaltigen Wellenbewegung dieser Wahl sich als unerschütterlich erwiesen hat. In dieser Feststellung ist aber zugleich auch die andere, ebenso wichtige, ebenso schwerwiegende eingeschlossen: es ist den Nationalsozialisten nicht gelungen, die Idee zu verwirklichen, die das Hauptelement des Nationalsozialismus sein soll, die Idee nämlich, die deutsche Arbeiterschaft dem Internationalismus zu entreißen und den deutschen sozialistischen Arbeiter zum Nationalismus zu erziehen.“16
Und die der Deutschnationalen Volkspartei nahe stehende „Süddeutsche Conservative Correspondenz“ mahnte ihre Leserschaft vierzehn Tage nach der konstituierenden Sitzung des Reichstages: „Die satte Bourgeoisie vergisst in ihrer Freude über die 107 reichstäglichen Hakenkreuzler, dass die Kommunisten die einzige Partei sind, die riesenhaft gestärkt aus dem Wahlkampf hervorgingen.“17
Dort, wo die NSDAP Einbrüche in der Arbeiterschaft erzielen konnte, handelte es sich vorzugsweise um Landarbeiter sowie um lohnabhängige Handwerker und Arbeiter in kleinen und mittleren Betrieben.18 Bei den Erwerbslosen hatte die KPD den stärksten Rückhalt, während die Nazipartei hier nur einen unterdurchschnittlichen Wähleranteil erzielen konnte.19
Ein weiteres wichtiges Resultat der Analyse des nationalsozialistischen Wahlergebnisses war die Feststellung der außerordentlichen Attraktivität der NSDAP für junge Menschen. Die unter der jungen Generation verbreiteten Stimmungen und Auffassungen, die immer stärker von einer grundsätzlichen Ablehnung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Weimarer Republik geprägt waren, wurden offenkundig von den Nazis in wirksamer Weise aufgegriffen und als ihr scheinbar eigenes Anliegen thematisiert.20 Die so genannte Hitler-Jugend und die besonders von jungen Männern frequentierte SA boten neben Schlägereien und Terrorakten gegenüber politisch Andersdenkenden auch die Möglichkeit, sich in einer Zeit existenzieller Krisen unter Gleichgesinnten ein Gefühl von „Kameradschaft“ und „Geborgenheit“ zu verschaffen.21 Hier existierten ganz offensichtlich Defizite in der Jugendpolitik beider Arbeiterparteien, die es nicht vermocht hatten, in erforderlicher Weise junge Erwachsene an sich zu binden. Zwei Tage vor den Reichstagswahlen schrieb die liberale „Frankfurter Zeitung“ in einem Leitartikel über die entsprechenden Versäumnisse der SPD: „Wie viel mehr ist leider Gottes die Sozialdemokratie in diesen paar Jahren (seit den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928-R.Z.) verkalkt und versteinert. Keine Partei hat sich so wie sie…der starken inneren Bewegung, die heute durch die Masse der deutschen Menschen geht, entzogen. Die Sozialdemokratie ist unzweifelhaft die konservativste Partei, die wir heute haben.“ Die Frage, ob es sich bei ihr immer noch um eine „Partei der Jugend“ handele, sei mit einem „Nein!“ zu beantworten.22
Oft wird der Beitritt von jungen Männern zur SA erfolgt sein, weil es in den SA-Lokalen gelegentlich Suppen für hungrige Mägen gab, Hinweise auf Beschäftigungsmöglichkeiten bei mit den Nazis sympathisierenden Unternehmern und Gewerbetreibenden ausgetauscht wurden, aber auch die Attraktivität einer militanten und straff organisierten, beständig an Mitgliedern und Einfluss wachsenden Organisation seine Wirkung nicht verfehlte.23
Wo lagen die Hochburgen des NS-Wahlerfolges? Vorzugsweise in ländlichen Regionen, in Klein- und Mittelstädten mit protestantischer Dominanz. In den preußischen Provinzen Schleswig-Holstein (27 Prozent), Pommern (24,3 Prozent) und Ostpreußen (22,5 Prozent) sowie in der Pfalz (22,8 Prozent) und in Hessen-Nassau (20,8 Prozent) konnten dabei die besten Wahlergebnisse erzielt werden. Aber auch in den traditionell industriell strukturierten Wahlkreisen Breslau (24,2 Prozent) und Chemnitz-Zwickau (23,8 Prozent) gelangen der NSDAP bemerkenswerte Resultate.
In Wittmund in Ostfriesland (51 Prozent), in Norddithmarschen in Schleswig-Holstein (50 Prozent), in Coburg in Franken (47 Prozent), im hannoverschen Diepholz und im badischen Kehl (jeweils 44 Prozent) votierte etwa die Hälfte der Wählerschaft für die Partei Hitlers.24
Insgesamt war der Wahlerfolg der Nazis am 14. September 1930 wesentlich von den sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise bewirkt worden, aber auch von dem Bild, das die NSDAP in der Öffentlichkeit bot und das sich grundlegend von dem Gehabe der traditionellen bürgerlichen Honoratiorenparteien unterschied. Das dumpfe Gefühl: „Die werden etwas für den kleinen Mann tun, die reden nicht bloß“, bewog viele Wähler, zugunsten der Nazipartei zu votieren. Die Deutschnationale Volkspartei (1928: 73 Mandate, 1930: 41), die Deutsche Volks-Partei (1928: 45 Mandate, 1930: 29) und die Deutsche Demokratische Partei (1928: 25 Mandate, 1930: 20) verloren deshalb folgerichtig ihre Wählerschaft in erheblichem Maße an die NSDAP.
Wie auch immer die Ursachen des Erfolges der faschistischen Partei bewertet werden mochten: Das bürgerliche Lager stand jetzt vor der Beantwortung der Frage: „Wie hältst Du’s mit der NSDAP“?
Eine Koalitionsregierung mit Nazi-Ministern?
In den Reihen der Nazipartei herrschten angesichts des Wahlerfolges verständlicher Weise Begeisterung und Triumph. Man wähnte sich und seine Politik durch die Wählerinnen und Wähler vollauf bestätigt. Joseph Goebbels, der faschistische Gauleiter von Berlin, notierte in sein Tagebuch: „Die ersten Wahlresultate. Phantastisch. Sportpalast überfüllt. Einen so dröhnenden Jubel vernahm er noch nie. Jubel um Jubel. Ein unglaublicher Aufstieg. Eine hinreißende Kampfstimmung. Die bürgerlichen Parteien sind zerschmettert.(…) Eine Begeisterung wie 1914. Der Sportpalast gleicht einem Irrenhaus. Die SA trägt mich auf den Schultern durch den Saal.“25
In der Nazi-Presse wurden neben der Bekundung eines grenzenlosen Triumphalismus jetzt in aller Offenheit Drohungen gegenüber den politischen Gegnern formuliert. Der „Völkische Beobachter“ schrieb am 17. September: „Wer uns die Hände bindet im nun kommenden Endkampf gegen den Marxismus, den wollen wir überwinden und niederschmettern wie den Marxismus selbst, gegen den wir nun mit voller Macht antreten werden.“26
Wenige Tage später formulierte Joseph Goebbels in einem Leitartikel des „Angriffs“ in aller Unmissverständlichkeit, welche Ziele seine Partei und ihre Reichstagsfraktion anzustreben gedachten: „Man täusche sich im Lager der Mitte nicht über unsere Absichten: die nationalsozialistische Bewegung hat keineswegs den Ehrgeiz, sich vor den bürgerlichen Parteikarren spannen zu lassen.(…) Die nationalsozialistische Bewegung will eine Umwälzung des Bestehenden, und sie ist nicht gekommen, um Fallendes zu halten, sondern es noch zu stoßen.“ Immerhin ließ sich Goebbels ein Hintertürchen für die künftige Teilhabe an einer Reichsregierung offen: „Wir passen ebenso gut auf Ministersessel, wie wir auf die Tribünen der Volksversammlungen passen.“27
Wiederum im Berliner Sportpalast war es Joseph Goebbels, der am 21. November mit dem ihm eigenen Zynismus Klartext redete: „Es ist gefragt worden: Werden Köpfe rollen? Und unsere Antwort lautet: Jawohl. Sie werden einmal ganz verfassungsmäßig und legal rollen.(…) Die Abrechnung wird durch einen ganz legalen Staatsgerichtshof erfolgen.“28
Wie reagierten nun die etablierten, durch die Reichstagswahlen angeschlagenen bürgerlichen Parteien auf den Wahlsieg der Nazis? Gab es Überlegungen, sie mit in ein neu zu formendes Kabinett einzubinden?
Insgesamt existierten nach dem 14. September 1930 im Wesentlichen drei Optionen, unter denen eine Variante für künftiges Regierungshandeln auszuwählen war:
Erstens eine Fortsetzung des Regierung unter der Kanzlerschaft von Heinrich Brüning, ausgestattet mit dem Vertrauen des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der durch von ihm erlassene Notverordnungen die allzu schwache parlamentarische Basis Brünings kompensieren konnte. Allerdings müsste die SPD-Fraktion durch eine Politik der „Tolerierung“ dafür garantieren, dass an ihrem Votum die zentralen Gesetzesvorschläge des Kabinetts nicht scheitern bzw. gemäß Artikel 48 Absatz 3 der Reichsverfassung die Notverordnungen des Reichspräsidenten nicht nachträglich vom Reichstag wieder aufgehoben würden.
Zweitens die Konstituierung einer Großen Koalition unter Einbeziehung der SPD, die mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun den Vizekanzler stellen und dadurch in der eskalierenden ökonomischen, sozialen und politischen Krise einen großen Teil der Arbeiterklasse disziplinieren und das sozialdemokratische Klientel von außerparlamentarischen Massenaktionen abhalten sollte. Flankiert werden könnte der Eintritt der SPD in die Regierung durch eine Neuauflage der „Zentralarbeitsgemeinschaft“ (ZAG) aus Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, einer Art „Konzertierter Aktion“, die am 4. Dezember 1918 als „Stinnes-Legien-Abkommen“ konstituiert und im Jahre 1924 wieder aufgekündigt worden war. Tatsächlich waren beinahe während des ganzen Jahres 1930, schon Monate vor den Reichstagswahlen, Verhandlungen im Gange, deren Ziel darin bestand, die Chancen für eine erneuerte ZAG auszuloten.29 Übrigens zählte nicht zuletzt die Reichswehr-Führung im Herbst 1930 zu den Befürwortern eines Zusammengehens Brünings mit der SPD. Sie wollte dadurch erreichen, dass sich die innenpolitische Krisensituation nicht weiter zuspitzen konnte und den Kommunisten, aber auch den aus der Sicht der Generalität intransigenten Nazis, der Wind aus den Segeln genommen werden sollte.30
Drittens die Einbindung der NSDAP als Koalitionspartner des Zentrums und anderer bürgerlicher Parteien in die Regierungsverantwortung.
Bekanntlich setzte sich die erste Variante durch, nachdem Brüning vor allem in streng vertraulichen Gesprächen mit den sozialdemokratischen Parteiführern Otto Wels, Otto Braun, Rudolf Hilferding und Hermann Müller deren Einverständnis für eine „Tolerierungspolitik“ erreichen konnte.31 Wenn auch die SPD formal nicht in die Reichsregierung eingebunden war, wie es die zweite Variante vorsah, die von nicht wenigen führenden Sozialdemokraten ernstlich erwogen wurde, so saß sie dennoch gewissermaßen „im Beiwagen“ des Kabinetts Heinrich Brüning.
Und die dritte Variante? Die Entsendung faschistischer Minister in die Regierung? Dafür war die Zeit im Herbst 1930 offenbar noch nicht reif, obwohl Teile der bürgerlichen Presse und der Deutschnationalen Volkspartei sowie einige Großindustrielle mit Fritz Thyssen an der Spitze, dem Aufsichtsratsvorsitzenden des weltweit zweitgrößten schwerindustriellen Konzerns, der Vereinigten Stahlwerke AG, durchaus ernsthaft diesen Gedanken erwogen.32
Nicht zuletzt die „Berliner Börsen-Zeitung“ propagierte in ihren Leitartikeln eine Regierungsbeteiligung der NSDAP. Bereits drei Tage nach den Wahlen schrieb sie: „Die letzten Wahlen haben gezeigt, dass der Nationalsozialismus seine Rekrutierung nicht aus dem Sozialismus bezieht, sondern aus dem Bürgertum. Er ist also trotz seines Namens keine ‚sozialistische’, sondern eine ‚bürgerliche’ Partei; dieser Charakter muss um so schärfer zum Ausdruck kommen, je eher der Nationalsozialismus politisch in die Verantwortung einbezogen wird. Je früher das geschieht, desto größer sind die Möglichkeiten, diese Bewegung, deren Werbekraft noch nicht erschöpft ist, in politisch tragbaren Bahnen zu halten…“33 Nur einen Tag später las man in der gleichen Zeitung, es bestünde die Notwendigkeit einer Koalition vom Zentrum bis zur NSDAP. Die beim katholischen Zentrum aus christlichen Motiven hiergegen geäußerte Ablehnung sei unverständlich: „Hier (bei der Nazipartei-R.Z.) handelt es sich nicht um eine staatsfeindliche, sondern dem Staate leidenschaftlich zugewandte Masse, und es handelt sich um keine Partei, die dem Gottesglauben den Krieg erklärt hat, sondern um eine, deren religiöser Kern nicht bezweifelt werden darf.“34
Und zum Dritten: Am 28. September setzte die „Berliner Börsen-Zeitung“ mit einem Leitartikel unter der Überschrift „Die Pflicht der deutschen Wirtschaft“ ihre Kampagne für eine Regierungsbeteiligung der Nazipartei und das dafür erforderliche Einverständnis des Zentrums fort. Dieses Mal wurde als Beleg für die Schlüssigkeit der eigenen Argumentation sogar Papst Pius XI. bemüht: „Es muss heute mit einer verfassungsmäßigen Mehrheit oder mit diktatorischen Maßnahmen, die ein Mitreden des Reichstags nicht mehr zulassen würden, regiert werden.“ Und weiter: „Von dem Zentrum muss unbedingt verlangt werden, dass es sich nunmehr nach rechts orientiert und seine Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus, der doch sicherlich viel christlicher ist als der Marxismus, aufgibt. Man kann nur die Hoffnung haben, dass die vielen rechtsgerichteten Elemente im Zentrum und der hohe Klerus das Beispiel des Vatikans, der ja dem italienischen Faschismus die Hand gereicht hat, nachahmen und sich mit der Tatsache abfinden, dass eben heute die NSDAP eine Partei geworden ist, mit der man zusammen regieren kann und muss.“35
Weitere Beispiele der Kampagne rechtsorientierter bürgerlicher Gazetten, die Nazis gewissermaßen in die Reichsregierung zu schreiben, ließen sich ad infinitum anführen. Man wende nicht ein, hier handle es sich lediglich um Aussagen von Journalisten ohne ein politisches Mandat. In den Leitartikeln der einschlägigen Presse spiegelten sich durchaus die von konservativen Politikern und Industriellen angestellten Gedankenspiele über die Formen und Ziele einer möglichen Zusammenarbeit mit der faschistischen Partei wider. Sie stellen deshalb eine nicht zu vernachlässigende Quelle für die Rekonstruktion der damaligen Auseinandersetzungen in diesem gesellschaftlichen und politischen Milieu dar.
Gerade in den Beiträgen der konservativen Presseorgane wurde im Verlaufe der Wochen unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 aber auch deutlich, an welchem Punkt das Misstrauen gegenüber der aufstrebenden Nazipartei besonders groß war: Es ging primär um ihre wirtschaftspolitischen Aussagen, genauer: um ihr Verhältnis zum Privateigentum an den Produktionsmitteln, aber auch um die Beantwortung der Frage, ob die Faschisten unter Umständen bereit wären, sich als Juniorpartner in eine bürgerliche Koalition einzupassen.
Die NSDAP und ihr „Antikapitalismus“ am Beispiel des Berliner Metallarbeiterstreiks
Unübersehbar existierten innerhalb der Mitgliedschaft der NSDAP und der SA ernst zu nehmende Kräfte, deren häufig diffus artikulierter, aber subjektiv durchaus ernst gemeinter Antikapitalismus nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Während der größte Teil der Parteiführung, darunter Adolf Hitler und Hermann Göring, die seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise eskalierenden antikapitalistischen Stimmungen in demagogischer Absicht instrumentalisierten, verhielt es sich an der Basis der faschistischen Partei nicht immer in diesem Sinne.
Zwar gab es die feine Unterscheidung zwischen dem „schaffenden Kapital“ einerseits, das reale Werte schaffe und das mit dem – im völkischen Sinne – „deutschen Unternehmertum“ identifiziert wurde sowie dem „raffenden Kapital“ andererseits, bei dem es sich vor allem um im Finanzsektor tätige Juden handle. Letzteren ginge es, so verbreiteten die Nazi-Ideologen in immer neuen Varianten, nicht allein um die Erzielung von Gewinn, sondern um die dauernde Abhängigmachung „deutscher“ Unternehmen vom „jüdischen Finanzkapital“ und letztlich um die Kontrolle der gesamten Volkswirtschaft im Auftrage und Interesse des „Weltjudentums“. Doch wer konnte sicherstellen, dass zum Beispiel die lauthals propagierte Forderung nach einer Verstaatlichung der Warenhäuser sich eines Tages tatsächlich nur auf die jüdischen Konzerne wie Wertheim, Israel oder Tietz erstrecken würde?36 Wer war imstande vorherzusagen, ob die antikapitalistischen Stimmungen an der Basis von NSDAP und SA nicht irgend eines Tages eine von der Parteiführung nicht zu kontrollierende Eigendynamik entwickeln könnten?
Diese Probleme beschäftigten vorrangig diejenigen politischen Kräfte, die potenzielle Bündnis- und Koalitionspartner der Nazipartei waren. Hieran musste sich im Herbst 1930 erweisen, ob Hitler und seine Partei bereits das „Reifezeugnis“ für die Regierungsfähigkeit verdient hatten. Die oben zitierte „Berliner Börsen-Zeitung“, wie auch andere konservative Gazetten, setzten darauf, dass die NSDAP im Kern einen bürgerlichen, also, bezogen auf die Produktionsmittel, eigentumsfreundlichen Charakter habe. Aber seit der Mitte des Monats Oktober, nur vier Wochen nach den Reichstagswahlen, setzte im konservativen Lager ein unverkennbarer Stimmungsumschwung ein. Ausschlaggebend dafür war vor allem die Befürwortung der Teilnahme von Nazi-Arbeitern am Berliner Metallarbeiterstreik durch den verantwortlichen Gauleiter Joseph Goebbels, der am 15. Oktober 1930 begann, vierzehn Tage lang andauerte und der bedeutendste Arbeitskampf in der Endphase der Weimarer Republik mit mehr als 130.000 teilnehmenden Arbeiterinnen und Arbeitern war.37
Bei diesem Streik handelte es sich um einen von der KPD, der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) und Unorganisierten durchgeführten Arbeitskampf gegen einen drohenden Lohnabbau, der letztlich nicht verhindert, aber teilweise abgemildert werden konnte. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband (DMV) beteiligte sich deshalb nicht aktiv am Streik, sondern orientierte auf eine „Verhandlungslösung“, weil er die „Tolerierungs“-Politik der SPD gegenüber dem Kabinett Heinrich Brüning durch außerparlamentarische Massenaktionen nicht zu stören gedachte.
Die Berliner NSDAP befand sich in dieser Situation in einer Zwickmühle: Wenn die Partei und ihre Anhänger nicht am Streik teilgenommen bzw. ihn nicht unterstützt hätten, wären sie des Beifalls konservativerer Politiker und Publizisten sowie der industriellen Interessenverbände sicher gewesen. In deren Augen sollten die Nazis die Funktion von Streikbrechern übernehmen. Aber die Glaubwürdigkeit der lauthals artikulierten antikapitalistischen Propaganda hätte einen starken Dämpfer bekommen und die gerade von Joseph Goebbels in der Reichshauptstadt seit Ende 1929 forcierten Bemühungen, innerhalb der Betriebsbelegschaften „Eroberungen“ mit Hilfe der jüngst aus der Taufe gehobenen „Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation“ (NSBO) unter der Parole „Hinein in die Betriebe!“ zu machen, wären von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Weiterhin war in Rechnung zu stellen, dass der im Juli vollzogene Parteiaustritt von Otto Straßer („Die Sozialisten verlassen die Partei!“), des Exponenten des „linken Flügels“ der NSDAP, immer noch für Unruhe in der Mitgliedschaft der Partei sorgte, gerade innerhalb der SA sowie unter Nazi-Arbeitern.38 Diese Kräfte waren darauf fixiert, das sensationelle Ergebnis der Reichstagswahlen nicht für eine Zusammenarbeit mit den etablierten bürgerlichen Parteien auszunutzen, schon gar nicht für eine Koalition, in der Adolf Hitler als Juniorpartner die Rolle des Vizekanzlers hätte übernehmen müssen. Die Propaganda-Phrase von der anzustrebenden „nationalsozialistischen Revolution“ wurde hier für bare Münze genommen, die reaktionäre Deutschnationale Volkspartei, das katholische Zentrum und die weitgehend großindustriellen Interessen dienende Deutsche Volks-Partei waren in diesem Milieu fast ebenso verhasst wie Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten.
Als Ausweg wählten die Berliner Gau-Leitung eine völlig eigenständige Beteiligung am Streik, die keinerlei Kooperationen ihrer in den betreffenden Betrieben beschäftigten Mitglieder und Anhänger mit den von der KPD/RGO geführten Streikleitungen und den von ihnen inittierten Aktionen (z.B. Massenstreikposten, Kundgebungen, Geld- und Lebensmittelsammlungen, „Streikküchen“, Kulturveranstaltungen) vorsah. Stattdessen organisierten sie Unterstützungsmaßnahmen ausschließlich für ihre Mitglieder, wobei die Erfolge offenbar recht mäßig waren. Außerdem hatte Joseph Goebbels am 15. Oktober 1930 einen vor Verbalradikalismen strotzenden Aufruf veröffentlicht, der in hoher Auflage als Flugblatt verteilt wurde, in dem er nicht nur zur Beteiligung am Arbeitskampf aufrief, sondern allen Nazis, die sich als Streikbrecher betätigten, den Ausschluss aus der NSDAP androhte.39 Ferner wurde eine so genannte Streikleitung mit Sitz in der Berliner Gauleitung installiert. Zeitgleich brachte die faschistische Fraktion, gleichsam als parlamentarische Begleitmusik, Anträge in den Reichstag ein, die eine Verstaatlichung der Großbanken und die Einziehung des „gesamten Vermögens der Bank- und Börsenfürsten“ beinhalteten. Damit nicht genug: Gemeinsam mit der SPD und der KPD hatten die Abgeordneten der Nazipartei am 16. Oktober im Reichstag unter großem Aufsehen der Öffentlichkeit sogar einem Antrag der sozialdemokratischen Fraktion zur Annahme verholfen, der den Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald (Zentrum) aufforderte, den von einem „unabhängigen“ Schlichter ausgearbeiteten Schiedsspruch, der den Lohnabbau in der Berliner Metall- und Elektroindustrie durchsetzen sollte, nicht zu bestätigen.
Für die potenziellen Bündnispartner der NSDAP stellte sich angesichts all’ dessen die Frage, ob mittlerweile ein Punkt erreicht worden war, an dem der vermeintliche Antikapitalismus der Faschisten sich von einem Instrument zur Beeinflussung und Gewinnung von Teilen der Arbeiterklasse zu einer Schranke für die Durchsetzung von Kapitalinteressen entwickelt hatte und er zukünftig sogar zu einer realen Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung mutieren könnte. Galt der berühmte Satz aus Goethes „Zauberlehrling“: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“? Entsetzt schrieb die von der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie finanzierte „Deutsche Bergwerks-Zeitung“, dass sich beim Berliner Metallarbeiterstreik „Hakenkreuz und Rätestern in trautem Bunde“ befänden40, während die der DNVP nahestehende „Deutsche Tageszeitung“ analysierte, man erlebe während des Metallarbeiterkampfes in Berlin von Seiten der Nazis „reine Demagogie“.41
Diese in großindustriellen Kreisen real existierende Besorgnis über den Kurs der NSDAP, aber auch interessanten Aufschluss über die Motive der faschistischen Parteiführung, zur Teilnahme am Streik aufzurufen, verdeutlicht der Verlauf einer Versammlung von Industriellen, die am 20. Oktober 1930 in Dresden auf Initiative des Vorsitzenden des Verbandes Sächsischer Metallindustrieller, Dr. Wildgrube, stattfand.42 Als Gast dieser vertraulichen Runde referierte der Wirtschaftsberater Hitlers und Mitglied der Reichsleitung der NSDAP, Otto Wagener. Gleichfalls anwesend war Manfred von Killinger, früherer Marine-Offizier, Freikorps-„Führer“, nunmehr SA-Obergruppenführer und Abgeordneter des sächsischen Landtages, später im „Dritten Reich“ Diplomat und von 1940 bis 1944 Gesandter in Bukarest.
Zu Beginn der Veranstaltung referierte Wagener über die allgemeinen wirtschaftspolitischen Vorstellungen seiner Partei. Doch er kam nicht weit mit seinen Ausführungen. Rasch wurde er von aufgebrachten Zwischenrufern unterbrochen, die Informationen über das Verhalten der Nazipartei im Berliner Metallarbeiterstreik wünschten. Wagener brach seine Rede ab und gab das Wort an von Killinger weiter, der sich offenbar speziell zu dieser Thematik präpariert hatte. Er erklärte, „die Nationalsozialistische Partei habe in dieser Situation gar nicht anders handeln können, als die Unterstützung der streikenden Metallarbeiter zu proklamieren. Sonst wären ihre Anhänger aus Arbeiterkreisen zu Millionen fortgelaufen. Auch die Industriellen müssten dafür Verständnis haben. Es habe sich um eine notwendige politisch-taktische Maßnahme gehandelt.“ Offensichtlich waren die Zuhörer mit den Worten von Killingers zufrieden, denn anschließend konnte Otto Wagener sein Referat über die faschistische Wirtschaftsprogrammatik zu Ende führen.
Zur Beruhigung der konservativen und großindustriellen Kritiker des Verhaltens der NSDAP während des Streiks diente vor allem die am 5. November 1930 im „Völkischen Beobachter“ veröffentlichte Analyse des Arbeitskampfes aus der Feder Adolf Hitlers.43 Als Ursache der ökonomischen und sozialen Misere nannte er hier die „Erfüllungspolitik“ gegenüber den Siegermächten des Ersten Weltkrieges. An die Adresse der Arbeiterinnen und Arbeiter richtete er den Appell, nur „berechtigte Lohnforderungen“ zu stellen. Bei ihnen handle es sich um solche Forderungen, die „der Erhaltung der sozialen Volksgesundheit“ dienen, ohne dabei „der nationalen unabhängigen Wirtschaft selbst Schaden zuzufügen, das heißt sie in ihrem Bestande zu bedrohen oder zu gefährden.“ Und weiter: „Zerstört der Arbeiter durch unvernünftige Forderungen die nationale Wirtschaft, so zerstört er damit seine eigene Existenz, seine Lebensgrundlage.“ In der augenblicklichen Situation aber, so Hitler, „könne „das Ergebnis eines jeden Streiks…wirtschaftlich gesehen nur ein noch schlimmeres Ende sein.“ Der Tenor dieses grundsätzlichen Beitrages, der groß aufgemacht auf der Titelseite des Parteiblattes erschien, war eindeutig: Ab sofort würde die NSDAP ihre Beteiligung an Streiks sehr restriktiv handhaben. Das Echo in der bürgerlichen Presse auf diesen Artikel war durchaus positiv, dennoch blieb in den Kommentaren der konservativen Presse ein gehöriger Rest von Misstrauen hinsichtlich der Fähigkeit Hitlers und seiner Getreuen unübersehbar, diese streikpolitische Linie auch zukünftig durchsetzen zu können. Es zeigte sich im Herbst 1930: Noch war die NSDAP nicht irreversibel auf einen wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs ausgerichtet, der kompromisslos die Interessen des deutschen Monopolkapitals über allem Anderen stellte. Dass sich dies bis 1933 ändern sollte, ist weithin bekannt, kann aber nicht Gegenstand dieses Beitrages sein.44
Aus der internen Denkschrift der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Deutschen Reichsbank „Die nationalsozialistischen Reichstagsanträge vom 15.-30. Oktober 1930“:
„Eine Partei, die auf der einen Seite mit kapitalistischen Wirtschaftsführern (Krupp, Thyssen, Kirdorf, Abbé, Mannesmann, Siemens), sich gleichzeitig mit der sozialistischen Arbeiterschaft nicht entzweien will (vgl. Berliner Matallarbeiterstreik) und überdies noch auf kräftigen Zuzug aus der Landwirtschaft hofft, auf der anderen Seite aber auf die Durchführung ihrer eigenen Ideologie nicht verzichtet, muss notwendigerweise nach allen Richtungen hin weitgehende Konzessionen machen. Ihre wirtschaftspolitischen Anträge bilden daher ein Kuriosum, wie es in der Wirtschaftsgeschichte wohl einzig dasteht.(…) Die Nationalsozialisten pflegen dort, wo sie selbst die Regierung in der Hand halten, weit vorsichtiger und den realen Verhältnissen Rechnung tragend vorzugehen.“
BArch, R 2501/6788, Bl. 18ff. Diese Denkschrift trägt das Datum vom 15.11.1930.
SPD toleriert Brüning
Dass sich mit den Wahlergebnissen vom 14. September 1930 die politischen Gewichte in der Weimarer Republik stark verschoben hatten, war nicht zu bezweifeln. Doch es stellt sich sogleich die Frage nach den Alternativen. War der Massenzulauf der NSDAP, die bei den Reichstagswahlen am 31. Juli und am 6. November 1932 sogar die wählerstärkste Partei wurde (37,3 bzw. 33,1 Prozent der abgegebenen Stimmen), unvermeidlich? Diese Frage richtet sich naturgemäß in erster Linie an die beiden Hauptkräfte eines antifaschistischen Kampfes, die sozialdemokratische und die kommunistische Strömung der Arbeiterbewegung.
Beide Arbeiterparteien, die KPD ebenso wie die SPD, verkannten nach dem Wahlerfolg der faschistischen Partei von 14. September 1930 das Ausmaß der drohenden Gefahren. Die Sozialdemokraten, die 24,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten (1928: 29,8 Prozent), hatten sich vor den Wahlen in strikter Opposition gegenüber dem Kabinett Brüning befunden. Es sei die „reaktionärste Regierung seit der Novemberrevolution“, noch nie zuvor habe sich „eine Regierung so offen auf die Seite des Unternehmertums gestellt, es in der Ausnützung der Konjunktur durch Lohndruck derart unterstützt“; schließlich hätte „die Verletzung der Verfassung durch das Kabinett Brüning den faschistischen Kräften Mut gemacht.“45
Alle diese Einschätzungen, die sich in zeitgenössischen Leitartikeln des „Vorwärts“ nachlesen lassen, waren durchaus zutreffend. Sie charakterisierten Brüning und seine Politik insgesamt als Wegbereiter für einen noch weiter nach rechts orientierten Kurs, dessen Nutznießer letztlich die Nazis sein würden.
Allerdings geriet alles das in Vergessenheit, als nach den Reichstagswahlen keine mehrheitsfähige Koalitionsregierung gebildet werden konnte und das Kabinett Brüning auf die Unterstützung von Abgeordneten angewiesen war, deren Parteien nicht in der Regierung vertreten waren.
Hier sprang die sozialdemokratische Reichstagsfraktion in die Bresche. Mit der „Tolerierungspolitik“, die durch ein entsprechendes Abstimmungsverhalten verhinderte, dass Misstrauensvoten und andere für die Existenz des Kabinetts entscheidende Abstimmungen zu Ungunsten Brünings ausgingen, wurde die SPD zum faktischen Koalitionspartner.46
In völliger Verkennung des politischen Entwicklungsprozesses in jenen Jahren ging die SPD davon aus, dass aus dem Wegbereiter des Faschismus Heinrich Brüning inzwischen eine potenzielle „Barrikade gegen den Faschismus“47 geworden sei. Ohnehin wuchs innerhalb der Sozialdemokratie die Neigung, die NSDAP als ein nur zeitweiliges Phänomen der Parteienlandschaft fehl zu interpretieren: „Hitler ist lediglich ein Zwischenspiel“, formulierte Erik Nölting, einer der führenden Wirtschaftspolitiker der SPD: „Lasst die Nazis nur weiter antikapitalistische Stimmungen heranbilden, wir werden sozialistische Gesinnung daraus machen. Hitler ist Zwischenspiel, Schlussakt sind wir!“48
Außerparlamentarische Massenaktionen im Kampf gegen Faschismus, Sozial- und Demokratie-Abbau passten nicht zur Logik der „Tolerierungspolitik“, in die um sich greifende Unterschätzung des Ausmaßes der faschistischen Gefahr von Seiten der Sozialdemokraten. Ein Zusammenwirken mit den Kommunisten – ob innerhalb oder außerhalb der Parlamente – blieb in diesem Zusammenhang völlig jenseits ihres politischen Horizontes.
Die KPD und der „Sozialfaschismus“
Auch die KPD vermochte das Menetekel der Reichstagswahlen vom 14. September 1930 nicht zu deuten. Dafür gab es mehrere Ursachen. Zunächst ging die politische Strategie der deutschen Kommunisten davon aus, dass die Krise der Weimarer Republik in relativ kurzer Zeit in eine proletarische Revolution einmünden werde. Die Losung von der „Volksrevolution“, nach Ernst Thälmann „ausschließlich ein Synonym der proletarischen Revolution, eine populäre Formulierung“49, reflektierte die realitätsfremde Verarbeitung der politischen Entwicklung Anfang der dreißiger Jahre. Das Ergebnis der Wahlen zeige, so hieß es in einer Resolution des Politbüros der KPD, „dass Deutschland…vor der Entscheidung steht: entweder Diktatur des Faschismus…oder Diktatur des Proletariats“.50
Antifaschismus und Erkämpfung des Sozialismus bildeten somit eine untrennbare Einheit im Selbstverständnis der Kommunisten. Nicht zuletzt durch diese verfehlte Auffassung wurden von vornherein Chancen für die Herstellung eines breiten antifaschistischen Bündnisses verspielt. Denn das Spektrum politischer Bündnispartner musste auf einen zu kleinen Kreis von Mitstreitern begrenzt bleiben und deshalb von vornherein zum Scheitern verteilt sein, wenn das Ziel des antifaschistischen Kampfes letztlich in der Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ bestehen sollte.
Ferner trug die von Anfang an verhängnisvolle „Sozialfaschismus“-These entscheidend zur Behinderung jeglichen Erfolg versprechenden antifaschistischen Kampfes bei. Nach einer bereits im September 1924 getroffenen Formulierung Josef W. Stalins waren die „Sozialdemokraten der objektiv gemäßigte Flügel des Faschismus“, beide Bewegungen seien „keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder“.51
Als besonders gefährlich wurden innerhalb der Sozialdemokratie die linken Kräfte charakterisiert, da sie angeblich Illusionen über das tatsächliche Wesen der SPD verbreiten könnten.52 Gerade diese Kräfte aber waren es, die innerhalb ihrer Partei nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 auf parlamentarische wie außerparlamentarische Aktionen gegen den Faschismus drängten, die „Tolerierungspolitik“ ihrer Reichstagsfraktion heftig kritisierten und sich dabei durchaus Gehör auf Bezirksparteitagen und in den Spalten der Parteipresse verschafften.53
Insgesamt interpretierte die Führung der KPD das Ergebnis der Reichstagswahlen als Zeichen für den beginnenden Zerfallsprozess der Sozialdemokratie. Während die Kommunisten im Begriff seien, die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern, stehe die SPD „am Tage nach der Wahl bankrott da“.54 Sie habe „am 14. September einen Schlag erhalten, von dem sie sich niemals mehr erholen wird“.55 Auch das Wahlergebnis der NSDAP wurde von der KPD in einer solchen Weise gewertet, die seine Einordnung in das damalige politische Weltbild der Kommunisten ermöglichte. Der Stimmenzuwachs der KPD sei das „Hauptergebnis der Wahl“, welches „durch den großen zahlenmäßigen Erfolg der Faschisten in keiner Weise beeinträchtigt werden“ könne. Der Wahlerfolg Hitlers trüge „mit unentrinnbarer Sicherheit den Keim seiner künftigen Niederlage in sich. Der 14. September war der Höhepunkt der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland. Was nachher kommt, kann nur Niedergang und Abstieg sein.“56
Doch die Entwicklung der NSDAP sollte bekanntlich ganz anders verlaufen. Die KPD unternahm deshalb auch große Anstrengungen, den gewalttätigen faschistischen Provokationen, die hauptsächlich gegen die Kommunisten gerichtet waren, wehrhaft zu begegnen, aber auch die Masse der einfachen Mitglieder und wachsenden Anhängerschaft von NSDAP und SA über den Charakter des Faschismus aufzuklären, und sie, soweit dies irgend möglich schien, in außerparlamentarische Kämpfe gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau einzubeziehen.57 Aber in der politischen Praxis der KPD gewann die Militanz , wie sie in der Losung: „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!“ zum Ausdruck kam, eine größer werdende Bedeutung. Besonders in den Straßenkämpfen zwischen Nazis und Kommunisten in Berlin waren Ursachen und Wirkungen, Gewalt und Gegengewalt mitunter nicht mehr zweifelsfrei zu entwirren, begann sich die Militanz in der politischen Auseinandersetzung zu verselbständigen – ungeachtet mancher Appelle der kommunistischen Parteiführung, darunter von Ernst Thälmann persönlich, das Hauptaugenmerk auf den ideologischen Kampf gegen den Faschismus zu richten und keinen individuellen Terror zuzulassen.58 Doch diese Aufrufe fanden nicht immer die notwendige Resonanz.59
So haben damals letztlich beide Arbeiterparteien vor der Geschichte versagt. Wertvolle Kräfte wurden im sinnlosen, oft hasserfüllten Kampf gegeneinander absorbiert, die nutzbringend gegen die NSDAP und die SA hätten gerichtet werden müssen. Erst im Aufruf des im Exil in der Tschechoslowakei wirkenden Parteivorstandes der SPD vom Januar 1934 („Prager Manifest“) sowie auf der Brüsseler Konferenz der KPD im Oktober 1935 analysierten beide Strömungen in der deutschen Arbeiterbewegung selbstkritisch ihre Politik in der Krise der Weimarer Republik. Allerdings konnten auch in den hier geführten Debatten und verabschiedeten Dokumenten nicht alle Fehleinschätzungen des Charakters der Weimarer Republik einerseits und des politischen Sektierertums andererseits überwunden werden.60
Aufrufe zur Einheit blieben folgenlos
Kritische Stimmen von Intellektuellen, die an die große politische Verantwortung der Arbeiterparteien erinnerten und Kommunisten wie Sozialdemokraten mahnten, endlich über ihren Schatten zu springen, verhallten ohne merkliches Echo. Arnold Zweig schrieb fast flehentlich im Februar 1931: „Die einheitliche Kampffront aller Antifaschisten schmieden, heißt den ideologischen Vorkämpfern in den Arbeiterparteien das Wort entziehen, es heißt, was in Deutschland am schwersten zu leisten sein wird, die vergangenen Fehler unter keinen Umständen wieder aufbuddeln, um sie bei Meinungsverschiedenheiten dem Verhandlungspartner wieder ins Gesicht zu schreien(…) Die Gegenwart verlangt Wirklichkeitssinn, Wirklichkeitssinn verlangt Bündnisse, Bündnisse verlangen redliche Anerkennung der Bündnisfähigkeit des Partners und verbieten die geheime gegenseitige Verachtung, die seit 1917 die deutsche Arbeiterlinke lähmt.“61
Am Ende sollten sich die Unterschätzung des Faschismus und die verfehlten antifaschistischen Strategien bitter rächen. Nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 schlug die Stunde der antifaschistischen Kräfte. Denn trotz ihres gewaltigen Wahlerfolges war die NSDAP noch nicht eine politisch und organisatorisch gefestigte Massenpartei, zu der sie erst 1931/32 heranwuchs. Doch die damals vorhandene Chance, unverzüglich ein großes antifaschistisches Bündnis zu schmieden, dessen Achse die beiden Arbeiterparteien hätten bilden müssen, wurde von ihnen leichtfertig vertan.
Dr. Reiner Zilkenat