Braunbuch Reichstagsband
„Das Braunbuch ist eine Hetzschrift, die ich vernichten lasse, wenn ich sie kriege.“ (Hermann Göring im Reichstagsbandprozess)
Es gibt Bücher, die sind zwar tagesaktuell geschrieben, aber von einer solch grundsätzlichen Bedeutung, dass sie auch 80 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung nichts an Aktualität verloren haben. Ein solches Werk ist das „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“, entstanden im Frühjahr 1933.
Die zentralen Ereignisse und Daten der Machtübertragung an die NSDAP sind hinreichend bekannt. Die politische Einflussnahme von Vertretern der Industrie, der Banken und der Großagrarier zugunsten einer Reichskanzlerschaft Adolf Hitlers. Die Gespräche von Franz von Papen mit Oskar von Hindenburg, dem Sohn des greisen Reichspräsidenten im Haus des Bankiers Schröder, die Koalition der Harzburger Front, die mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 an die Macht gebracht wurde. Aber diese Macht war in keiner Weise gesichert. Die Rechtskräfte sorgten sich vor einer möglichen geschlossenen Gegenaktion der Arbeiterorganisationen, der Parteien und Gewerkschaften, war doch noch das Scheitern des Kapp-Putsches in deutlicher Erinnerung. Einen solchen Widerstand zu brechen, dazu bedurfte es eines verschärften Terrors, der jedoch nicht ohne Begründung in dieser Phase der faschistischen Herrschaft zu etablieren war.
Mit dem Reichstagsbrand vom 27./28. Februar 1933, wenige Tage vor der Reichstagswahl vom 5. März inszeniert, verschärften die Nazis den Terror gegen politisch Andersdenkende und sonstige als Gegner deklarierte Menschen im Deutschen Reich. Verhaftungen von Gewerkschaftern, Kommunisten und Sozialdemokraten, von liberalen Demokraten nach vorbereiteten Listen schufen eine Situation der Angst und Willkür und stellten eine Machtdemonstration dar, unter der die NSDAP einen umfassenden Wahlsieg erhoffte. Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ setzte alle Regeln und demokratischen Rechte der Weimarer Verfassung außer Kraft – eine Voraussetzung für die Durchsetzung der terroristischen Herrschaft. Für die Antifaschisten war sehr schnell deutlich, dass dieser Reichstagsbrand nur das Werk faschistischer Provokateure gewesen sein konnte, selbst wenn nach kurzer Zeit von der faschistischen Propaganda bereits Marinus van der Lubbe als „Täter“ präsentiert wurde. Doch auf die Frage „Qui bono?“ „Wem nützt es?“, gab es für die Nazigegner nur eine überzeugende Antwort: Es diente der Verschärfung des faschistischen Terrors.
Und diese Überzeugung verbreiteten sie in zahllosen konspirativ erstellten Flugschriften, Kleinzeitungen und anderen Formen antifaschistischer Propaganda. Da jedoch der faschistische Propagandaapparat auf Hochtouren lief und in Vorbereitung auf eine Anklage gegen Georgi Dimitroff, den Repräsentanten der Kommunistischen Internationale in Berlin, und weitere Kommunisten die Nazi-Version der Brandstiftung verbreitet wurde, beschlossen die kommunistischen Nazigegner auf Anregung von Willi Münzenberg eine propagandistische Gegenoffensive zu starten. Alexander Abusch, einer der Verfasser des Braunbuchs berichtet, dass er im Mai 1933 in Berlin von der illegalen Leitung der KPD den Auftrag bekommen habe, sich „unverzüglich nach Paris zu begeben, um an der Ausarbeitung eines dort geplanten ‚Braunbuches über Reichstagsbrand und Hitlerterror’ mitzuwirken. Das Buch sollte die Weltmeinung alarmieren und einen öffentlichen Prozess über den Reichstagsbrand erzwingen helfen.“ (Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror, Universum-Bücherei Basel 1933, unveränderter Reprint, Frankfurt/M. 1973, Nachwort ohne Seitenzahlen von 1973)
Ein solcher Prozess sollte zum einen verhindern, dass die angeklagten Antifaschisten ohne Möglichkeit der öffentlichen Verteidigung verurteilt würden, zum anderen sahen die Nazigegner darin auch eine Plattform, um ihre Sicht auf die Ereignisse, die Täter und Verantwortlichen öffentlich machen zu können.
Natürlich hatte man in Paris keinen eigenen Apparat zur Verfügung, der Zeugenbefragungen oder andere übliche kriminaltechnische Ermittlungen aufnehmen konnte. Vielmehr war man darauf angewiesen, alle veröffentlichten Informationen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit genauestens auszuwerten und diese Fakten mit dem Wissen von anderen Antifaschisten abzugleichen. So stellten sich sehr schnell Widersprüche in den von der faschistischen Propaganda verbreiteten Versionen des Hergangs mit Detailinformationen und Kenntnissen anderer Betroffener heraus. Zudem wurden durch den Informationsapparat der illegalen KPD im Deutschen Reich auch Zeugenaussagen von Tatbeteiligten zusammengetragen, die in keinem späteren Prozess abgerufen wurden. So erhielt die Redaktionsgruppe in Paris selbst Materialien aus Kreisen der Deutschnationalen, z.B. von Dr. Ernst Oberfohren, die einen Machtverlust gegenüber Hitler befürchteten, oder Aussagen von SA-Männern, die sich öffentlich mit der Tat gebrüstet hatten. Natürlich waren solche Aussagen nur schwer zu verifizieren, aber sie bestätigten die Überzeugung der Antifaschisten von der Täterschaft der Nazis.
Die wichtigsten Redakteure waren Alexander Abusch und Otto Katz, der in Frankreich unter dem Namen André Simone lebte. Für verschiedene Kapitel wurden Schriftsteller, die in Frankreich Exil gesucht haben, gebeten, redaktionelle Zuarbeit zu leisten. So kam es, dass in späteren Veröffentlichungen dieses Braunbuch „viele Väter“ hatte, unter anderen Rudolph Fürth, Wilhelm Koenen, Alfred Kantorowitz, Arthur Koestler und Albert Norden. Für die Nazi-Propaganda galt Willi Münzenberg, der „rote Medienzar“, als Verantwortlicher für die Herausgabe.
Den besonderen Charakter der Veröffentlichung beschrieb Alexander Abusch später so:
„Es ist ein deutsches Buch. Deutsche haben es erlebt und erlitten. Deutsche haben es geschrieben.
Es ist ein internationales Buch. Antifaschisten in England und Frankreich, in Holland und Amerika haben die Herausgabe dieses Buches unterstützt. Das Welt-Komitee für die Opfer des Hitler-Faschismus, an dessen Spitze Prof. Einstein und Lord Marley stehen, hat diesem Buche seine Hilfe geliehen.“
Der Funktion der antifaschistischen Aufklärung entsprechend wurde im Braunbuch nur zu einem knappen Viertel auf den Reichstagsbrand selber eingegangen. Vielmehr wird der Brand in die Geschichte der Machtübertragung und die Realität der terroristischen Machtausübung eingeordnet.
So beginnt das Braunbuch mit dem Kapitel „Der Weg zur Macht“. In groben Zügen wird hier der Weg der NSDAP zur wichtigsten politischen Kraft der extrem rechten Kreise nachgezeichnet. Noch fehlen hier Details über die Kooperation mit Banken und Konzernen. Auch die Eingabe der Junker, Industriellen und Militärs nach der Novemberwahl findet sich hier noch nicht. Dennoch konnten die Antifaschisten schon damals den politischen Charakter der faschistischen Herrschaft und das Interesse der ökonomischen und politischen Eliten der Weimarer Zeit bei der Errichtung der faschistischen Herrschaft aufzeigen. In dem Kapiteln „Der Reichstag muss brennen!“ und „Das Werkzeug van der Lubbe“ gelingt den Verfassern der Nachweis, dass der Reichstagsbrand selber eine geplante Provokation war, die als Vorwand für die Verschärfung des Terrors herhalten sollte. So ist heute weniger bekannt, dass schon wenige Tage vor dem Reichstagsbrand ein kleines Feuer im ehemaligen Berliner Stadtschloss als „kommunistische Aktion“ propagandistische ausgeschlachtet wurde.
In dem Kapitel „Die wahren Brandstifter“ trugen die Autoren auf über 60 Seiten die damals bekannt gewordenen Fakten über die Wahrheit der amtlichen Kommuniqués, interne und öffentliche Widersprüche in der Darstellung der Abläufe, sowie technische und inhaltliche Details der Darstellung des Brandes zusammen, die auf der eine Seite die Angeklagten entlasteten und andererseits die faschistischen Organisationen und Führer in den Blick nahmen. In diesem Kapitel kommen die Verfasser zu dem Ergebnis: „Hauptmann Göring ist der Organisator des Reichstagsbrandes. Sein Parteigenosse Goebbels hat den Plan erdacht, Göring hat ihn durchgeführt. In seiner Hand waren alle Möglichkeiten vereint. In seiner Hand war alle notwendige Macht gegeben. In seiner Hand liefen alle Fäden zusammen. Der Morphinist Göring hat den Reichstags angezündet.“ (vgl, S. 129)
Hätte sich das „Braunbuch“ mit der Beschreibung dieser Fakten begnügt, wäre seine Langzeitwirkung sicherlich sehr gering gewesen. Wenige spezialisierte Historiker hätten es als Quellenmaterial zu entsprechenden Forschungen oder historischen Kontroversen herangezogen. Seine damalige und bis heute ungebrochene Bedeutung erhält das Braunbuch jedoch aus seinem Charakter als erste umfassende Dokumentation des faschistischen Terrors in Deutschland. Fast Zweidrittel des Buches beschäftigen sich mit der Darstellung der konkreten Erscheinungsformen des faschistischen Terrors. Die Themen lauten:
- Zerstörung der legalen Arbeiterorganisationen,
- der Vernichtungsfeldzug gegen die Kultur,
- Misshandlungen und Folterungen,
- „Juda verrecke!“,
- Vierzigtausend Männer und Frauen in Konzentrationslagern,
- Mord.
In diesen Kapiteln wird – basierend auf den Berichten der Antifaschisten aus Deutschland und der Auswertung der deutschen Presse – akribisch aufgelistet, auf welchen Feldern der faschistische Terror gewütet hat. Dabei ging es nicht allein um Verhaftungen und Misshandlungen, auch der institutionelle Terror durch Verordnungen und Gesetze, die der Ausgrenzung und Diskriminierung dienten, oder Entlassungen und Vertreibungen der demokratischen und kritischen Intelligenz, die „Säuberungen“ von Hochschulen und die Bücherverbrennungen im Mai 1933 werden in Wort und Bild dokumentiert. Allein 40 Seiten füllen die Beispiele der antisemitischen Ausschreitungen und Ausgrenzungen. Ausführlich wird der faktische Mord an dem jüdischen Rechtsanwalt Max Plaut aus Kassel, der im März an den Misshandlungen durch die SA starb, dokumentiert. Bis heute ist nicht bekannt, wie die detaillierten Informationen über dessen Verfolgungsschicksal ins Ausland gelangen konnten.
Die Berichte über das System der Konzentrationslager sind ebenfalls recht ausführlich, wobei hier kleinere Fehler durch mündliche Überlieferungen bzw. unkorrekte Darstellungen in der Presse entstanden sein dürften. Am Ende dieser Abschnitte findet man eine über 20seitige Mordliste, die beginnend mit dem 3. März 1933 etwa 250 bekannt gewordene Morde der Nazis bis Ende Juli 1933, dem Termin der Drucklegung des Werkes, auflistete.
Aber auch der Widerstand wird in dieser Dokumentation bereits aufgenommen. In den Kapiteln „Die Welt lässt sich nicht belügen“ und „Der heroische Kampf der deutschen Arbeiter“ listet das Braunbuch erste Beispiele von antifaschistischer Gegenwehr, soweit sie ohne die Akteure zu gefährden beschrieben werden konnte, auf. „Die deutschen Antifaschisten, die dieses Buch in kollektiver Arbeit schrieben, wollen aber auch der ganzen Welt freudig künden: dass es noch ein anderes, lebendiges Deutschland gibt. Es ist das Deutschland des unterirdischen, illegalen Freiheitskampfes der Antifaschisten. Es ist das Deutschland des wahren Heldentums. Es ist das Deutschland derer, die mit dem Opfer ihres Glücks oder ihres Lebens heroisch die Ehre und die sozialistische Zukunft des deutschen Arbeitervolkes verteidigen.“ (vgl. S. 373)
Verlegt wurde das Buch in der „Editions du Carrefour“, die Verlagsgesellschaft von Willi Münzenberg im französischen Exil. Gedruckt wurde das Buch in der Druckerei der Zeitung der französischen radikalsozialistischen Partei „La Republique“ in Straßburg. Im Impressum wurde jedoch aus Gründen der Konspiration als Verlag die Universum Bücherei Basel angegeben.
Und so war das Braunbuch tatsächlich jenes „internationale Buch“, von dem Alexander Abusch eingangs sprach. Und die internationale Resonanz war erstaunlich. Nachdem es am 1. August 1933 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, dauerte es nur wenige Wochen, bis es in siebzehn Sprachen übersetzt und weltweit in Millionenauflagen verbreitet wurde. Damit wurde es in den ersten Monaten und Jahren der faschistischen Herrschaft eines der wichtigsten Materialien der antifaschistischen Aufklärungsarbeit.
Natürlich war es wichtig dieses Material auch in Deutschland zu verbreiten. Aufgrund der politischen Verfolgung und Zensur wurde das Braunbuch für Deutschland in Form einer Tarnschrift gedruckt. Friedrich Schillers monumentales Theaterstück „Wallenstein“ oder Goethes „Hermann und Dorothea“, beide als Reclam-Hefte erschienen, eigneten sich besonders, um die fast vierhundert Seiten Text und Bildmaterial abzudrucken.
Auch die Gestapo musste diese Tarnschrift in ihren Überwachungsberichten registrieren. Bei wem diese Schrift gefunden wurde, der galt als besonders gefährlicher Gegner des faschistischen Regimes.
Das Buch lag vor, bevor der Reichsanwalt seine Anklage gegen Dimitroff und die anderen Angeklagten im Leipziger Reichstagsbrandprozess erhob. Dabei waren die Kommunisten ursprünglich nicht davon ausgegangen, dass der faschistische Propagandaapparat einen Schauprozess würde veranstalten wollen. Mit der Veröffentlichung des Braunbuchs wollte man eigentlich einen öffentlichen Prozess erzwingen. Da nun aber die Goebbel’sche Propaganda einen Prozess gegen den „Internationalen Kommunismus“ plante, bot das Braunbuch bereits hinreichendes Material, das Geflecht der faschistischen Propagandalügen zu durchlöchern.
Vor allem die Wirkung des Schauprozesses gegenüber der internationalen Öffentlichkeit wurde schon im Ansatz konterkariert, indem basierend auf den Materialien des Braunbuchs eine „Internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung des Reichstagsbrandes“ unter Vorsitz von Dennis Noell Pritt bereits vom 14. bis 20. September 1933 einen Londoner Gegenprozess organisierte. Ausgehend von der Sichtung des Braunbuch-Materials, von Zeugenaussagen und Sachexpertisen kam die Kommission zu dem Ergebnis: „dass die Dokumente und die mündlichen Aussagen sowie das übrige Material, das die Kommission in Händen hat, geeignet sind festzustellen, dass van der Lubbe das Verbrechen nicht allein begangen haben kann; dass die Prüfung aller Eingangs- und Ausgangsmöglichkeiten vom und zum Reichstag es höchst wahrscheinlich macht, dass die Brandstifter den unterirdischen Gang benutzt haben, der vom Reichstagspräsidentenpalais zum Reichstag führt; dass schwerwiegende Anhaltspunkte für den Verdacht gegeben sind, dass der Reichstag von führenden Persönlichkeiten der Nationalsozialistischen Partei oder in deren Auftrag in Brand gesetzt wurde.“ Das Ergebnis der Kommission sollte dabei nicht als Urteil verstanden werden, sondern als dringende Empfehlung an das deutsche Gericht in dieser Richtung ernsthaft zu prüfen.
Diese Ergebnis wurde dem Reichsgericht in Leipzig unmittelbar vor Prozesseröffnung am 21. September 1933 übermittelt. Auch wenn das Reichsgericht – wie nicht anders zu erwarten – mit dem klaren politischen Auftrag der juristischen Legitimierung des faschistischen Terrors ausgestattet in dieser Hinsicht nicht ermittelte, blieben die Ergebnisse des Londoner Gegenprozesses und auch die Materialien des Braunbuchs wie ein „heimlicher Nebenkläger“ in dem Verfahren allgegenwärtig. Während jedoch Richter und Staatsanwaltschaft bemüht waren, jeglichen Bezug auf das Braunbuch zu vermeiden, war es Hermann Göring selber, der mehrfach wie in dem Zitat in der Überschrift gegen das Braunbuch wetterte. Da der Prozess und besonders die Aussagen der faschistischen Größen live im Rundfunk übertragen wurden, erfuhren damit Antifaschisten in allen Teilen des deutschen Reiches von der Existenz dieser antifaschistischen Kampfschrift.
Wer sich ernsthaft die Entstehungsbedingungen und den historischen Kenntnisstand vergegenwärtigt, kann nur verblüfft darüber sein, welche Informationen ein Kollektiv, wie die Redaktion des Braunbuchs, aufdecken konnten und wie wenige grobe Fehler in diesem Buch zu finden sind. Auf die Problematik der ungesicherten Quellen ist ja bereits verwiesen worden.
Daher ist es eigentlich müßig, in der geschichtspolitischen Debatte aufzeigen zu wollen, welche Fehler das „Braunbuch“ enthält. Macht das ein Historiker jedoch, dann kann daraus geschlossen werden, dass es dieser Person um mehr geht, als um die Korrektur historisch ungesicherter Aussagen über Reichstagsbrand und faschistischen Terror in den ersten Monaten des Jahres 1933..
Ulrich Schneider