Es war »nur knapp die Mehrheit« …
Von Jürgen Reents
Mit dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933 zogen am Horizont Europas und der Welt Krieg und Vernichtung auf. Dieses Datum als »Anfang vom Untergang« zu bezeichnen, wie »Der Spiegel« titelte, enthielte jedoch zwei Unschärfen: Das Wort vom »Untergang« fesselt den Blick auf das Leid im eigenen Land, rückt die Zerstörung und die fünfzig bis sechzig Millionen Toten in den von der Wehrmacht und der SS überfallenen Ländern in den Hintergrund. Das Wort vom »Anfang« nimmt dem 30. Januar 1933 seine Vorgeschichte. Sie lautet: Hitler konnte nur Reichskanzler werden, weil die NSDAP in den fünf Jahren zuvor von einer Zweieinhalbprozent-Sekte zur stärksten Partei aufstieg. Gesorgt für den Machtantritt des deutschen Faschismus haben nicht zuletzt Millionen Deutsche mit ihren Stimmzetteln.
Knapp 12 Millionen (33 Prozent) waren es im November 1932, die Hitler an die Macht brachten. Über 17 Millionen (44 Prozent) wurden es im März 1933, die ihn an der Macht behalten wollten. Die Bundeszentrale für politische Bildung findet es noch heute »erstaunlich«, dass die NSDAP und die Deutschnationalen zusammen »nur knapp die Mehrheit« der abgegebenen Stimmen erhielten. Es klingt wie eine kleine Erleichterung, ein abgewischter Makel.
Aber warum war es überhaupt eine Mehrheit? Die über 20 Millionen, die Hitlers Kanzlerschaft bestätigten, hatten schon den ausgebrannten Reichstag gesehen, wussten um gestürmte KPD-Büros, um bereits zu Tausenden verhaftete Regimegegner, um die außer Kraft gesetzte Presse- und Versammlungsfreiheit. Sie hatten die letzte Chance, den deutschen Faschismus aufzuhalten, sie hatten noch das Wahlrecht und – noch – war ihre Wahl geheim. Sie machten freiwillig ihr Kreuz bei den Nazis – und konnten es zu dieser Zeit doch noch an anderer Stelle machen. Es war das letzte Mal vor dem Krieg.
In seinem 1924 erschienenen Buch »Mein Kampf« schrieb Hitler: »Wenn die Propaganda ein ganzes Volk mit einer Idee erfüllt hat, kann die Organisation mit einer Handvoll Menschen die Konsequenzen ziehen.« Welche Konsequenzen er meinte (für die er später mehr als eine Handvoll Organisatoren hatte), verheimlichte er nicht: ein Führerstaat anstelle der parlamentarischen Demokratie, Ausrottung der Juden, Vernichtung des Marxismus und Eroberung von Lebensraum im Osten. Nur die Idee war ein großer Schwindel: Mit Sozialismus hatte der »Nationalsozialismus« nichts zu tun. Er beseitigte keine sozialen Ungerechtigkeiten, sondern übermalte sie mit seiner Rassenideologie. Arbeiter und Unternehmer wurden zur Volksgemeinschaft verklärt, aus der alle »Nicht-Arier« entfernt werden sollten.
Der »Nationalsozialismus« war eine demagogische Formel, wie auch jene vom »Dritten Reich«. Hitler hatte diese einer christlichen Heilserwartung entwendet, in der an ein ewiges Zeitalter des Friedens und der Erlösung geglaubt wird. Aber der »kleine Mann«, von dem Goebbels laufend sprach, wurde nicht gerettet, sondern selbst geopfert. – Er durfte es ahnen. Das Feldgeschrei der Nazis war laut und der Erste Weltkrieg nicht lange her.
Die Nazis »machten Millionen Menschen für Abenteuer reif, die ihnen die Illusionen der Wiederkehr des alten Glanzes, der alten Herrlichkeit vorgaukelten«, schrieb der kommunistische Publizist und Verleger Willi Münzenberg im Pariser Exil. Es gelang ihnen mit ihrer Propaganda, »die Massen bewusst bei ihren Schwächen zu packen, ihre Instinkte zu entfesseln, ihre Triebe zu locken«, sie spekulierten »auf die Kanaille, auf den ›Schweinehund‹ im Menschen«. Und Münzenberg räumte ein, dass Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten nicht genügend geleistet hätten, um größere Schichten des Kleinbürgertums zu überzeugen, dass es kein Heil in einem »Dritten Reich« gebe.
Nach 75 Jahren: Ob dieses Land und die in ihm lebenden (und wählenden!) Generationen ausreichend gelernt haben? Man will es meinen, nach so vielen Jahrzehnten, seit der Faschismus vertrieben und Demokratie neu aufgebaut wurde.
Und doch: Die Demagogie, die bereit ist, »auf die Kanaille« zu spekulieren, treffen wir auch heute. Sie kommt nicht nur von Nazis. Millionen müssen mehr lernen, als nur die Nazis aufzuhalten.
Beleidigt man Roland Koch, wenn man ihn nicht für honoriger hält als Theodor Heuss, Reinhold Maier oder Ernst Lemmer? Sie stimmten Hitlers Ermächtigungsgesetz zu, als sie neben den Nazis im Reichstag saßen, ohne selbst welche zu sein. Möge späteren Demokraten die Prüfung erspart bleiben – und uns, dass sie die Kanaille locken.
ND-ePaper – die digitale Ausgabe von Neues Deutschland
ePaper – 26. Januar 2008