Unter Hitler war nicht alles schlecht?
Fakten wider die Mythen und Legenden über die »guten Seiten« des Nazi-Staates
Von Petra Seedorff
Eine Forsa-Umfrage ergab jüngst, dass mehr als 20 Prozent der Deutschen der Ansicht seien, das NS-Regime hätte auch gute Seiten aufgewiesen. Besonders groß sei die Zustimmung zu dieser Auffassung unter den über 59-Jährigen (mehr als 35 Prozent) und den unter 30-Jährigen (um die 25 Prozent). Als Begründung für diese Ansicht werden immer wieder die Familienpolitik, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und der Autobahnbau angeführt. Als die Moderatorin Eva Hermann eine ähnliche Meinung äußerte, ging ein Entrüstungsschrei durch die Medien. Dabei hatte sie nur formuliert, was offenbar mehr als ein Fünftel der Deutschen glauben. Aufklärung tut also not.
1. Die Frauenpolitik des NS-Staates war nicht frauenfreundlich, sondern frauenfeindlich. Sie reduzierte die Frau auf die Rolle als Hausfrau und Mutter und degradierte den weiblichen Körper zur Gebärmaschine.
Die Frauenbewegung erlitt in den Jahren 1933 bis 1945 enorme Rückschläge. Bereits im ersten Jahr der Hitler-Diktatur wurde den Frauen das passive Wahlrecht genommen, was sie erst 1918/19 erlangt hatten. Mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 wurden Tausende Frauen aus Ämtern entlassen. Offizielle Begründung: »Vereinfachung der Verwaltung«. Propagandaminister Joseph Goebbels verkündete unverblümt: »Die Frau hat die Aufgabe, schön zu sein und Kinder auf die Welt zu bringen. Die Entfernung der Frauen aus dem öffentlichen Leben, die wir vornehmen, geschieht nur, um ihnen ihre Frauenwürde zurückzugeben.«
Entlassen wurden zahlreiche Ärztinnen und Beamtinnen. 1936 musste die letzte Frau aus einem Richter- bzw. Staatsanwaltsamt ausscheiden, denn: Frauen könnten nicht logisch denken, sie entschieden nur nach Gefühl. An höheren Schulen wurde die Zahl der Lehrerinnen reduziert, der Mädchenanteil an Universitäten wurde gesenkt; erlaubt waren nur zehn Prozent. Moderne Bildungsansätze wie gemeinsame Schulen für Jungen und Mädchen wurden zurückgenommen. In einer Weisung des NS-Lehrerbundes hieß es: »Wir Erzieherinnen … haben darüber zu wachen, dass der Dienst am Werk und am Ganzen der Frau vor den eigenen Nutzen gehe. Sonst wird sie nicht glücklich.« Das bedeutete Unterordnung, Selbstverwirklichung war unerwünscht.
Dem diente auch die Einführung des »Pflichtjahres«. Dieses musste ein Mädchen oder eine junge Frau ableisten, bevor sie eine Ausbildung begann, zumeist in kinderreichen Familien oder als Hilfskraft beim Bauern – und dies ohne Lohn! Nach dem Pflichtjahr kam der Reichsarbeitsdienst (RAD). Das propagierte Frauenbild – breithüftig, flache Schuhe, ungeschminkt – entmündigte das weibliche Geschlecht. Es wurde im Unterhaltungsfilm kolportiert, selbst wenn Stars wie Zarah Leander oder Marika Rökk eigentlich das Gegenteil verkörperten. In »Die Frau meiner Träume« (1944) beweist Marika Rökk als Revuestar, dass sie sehr wohl ein nettes häusliches Mädchen sein kann; es schrubbt dem Mann sein Haus, kocht ihm das Essen, singt dazu und gibt die Karriere auf.
2. Die Familie wurde weder gefördert noch geschützt, im Gegenteil, sie wurde in ihrer eigentlichen Bedeutung zerstört.
Die NS-Familienpolitik orientierte auf die Vielkinderfamilie. Abtreibung wurde als »Sabotage am Volk« bezeichnet und mit hohen Haftstrafen, in einigen Fällen auch mit der Todesstrafe, geahndet. Die Einführung von Ehestandsdarlehen in Höhe von bis zu 1000 Reichsmark (RM) mag beim durchschnittlichen Monatsverdienst eines Arbeiters von ca. 140 RM für viele eine Hilfe gewesen sein. Jedoch wurde dieses Darlehen nur gezahlt, wenn die Frau aus dem Beruf ausschied. Gezahlt wurde zudem nur an »Arier«. Auch »politisch Unzuverlässige« hatten keinen Anspruch auf das Ehestandsdarlehen. Ab 1938 war das Darlehen auch bei Berufstätigkeit der Frau erhältlich – weil der Krieg in Sicht war, Arbeiterinnen gebraucht wurden.
Das Darlehen spendete nicht generös der Staat, es speiste sich aus der »Junggesellensteuer«, die schon unter Reichskanzler Brüning (1930-32) eingeführt worden ist. Es war in Raten zurückzuzahlen und konnte bei Geburt von Kindern sukzessive erlassen werden. Auch das »Hilfswerk Mutter und Kind« war kein Geschenk des Staates, sondern wurde aus Lohnabgaben und Spenden finanziert. Die Ausgaben des Staates für Soziales stiegen nicht, sondern sanken. Dafür stiegen die Lohnabzüge. Wer nicht spendete, ob für das Winterhilfswerk, Eintopfsonntag usw., wurde registriert. Unterstützung bekamen nur »förderungswürdige, erbtüchtige, hilfebedürftige deutsche Familien … Durchweg anständige Volksgenossen«. Aus der Gruppe der Spendenempfänger gestrichen wurden »sozial schwierige und unterwertige Personen, denen es an Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Volksganzen sowie ihren Familien fehlt«. Sach-Spenden stammten nicht selten aus dem Hausrat deportierter Juden oder den ihnen in den KZ abgenommenen Sachen.
Unter Himmlers Aufsicht wurde der »Lebensborn Verein« gegründet, der sich um die »Betreuung rassisch und erbbiologisch wertvoller Mütter, bei denen anzunehmen ist, dass gleich wertvolle Kinder zur Welt kommen« kümmern wollte. 13 Heime wurden in Deutschland eingerichtet, einige auch in besetzten Ländern, so in Norwegen. Nicht zur Gründung von Familien wurden junge Frauen hier geschult; sie hatten nur Kinder zur Welt zu bringen.
3. Der NS-Staat war keineswegs kinderfreundlich.
Allein der Euthanasie fielen ca. 5000 Kinder zum Opfer. Die Dunkelziffer dürfte erheblich größer sein, da Neugeborene und Kleinstkinder, die mit ihren Müttern ins Gas geschickt wurden, nicht immer auf Listen vermerkt worden sind. Tausende Kinder wurden Opfer von medizinischen Versuchen, starben auf den »Transporten«, wurden in Gefängnisse oder Jugend-KZ gesteckt oder gar hingerichtet (z. B. Mitglieder der oppositionellen Edelweißpiraten).
Die anderen, die »rassisch wertvollen« Kinder, wurden im nazistischen Geist erzogen, um für die Zwecke des Regimes missbraucht werden zu können: als zukünftige Soldaten, Besatzer, »Herrenmenschen« bzw. gebärfreudige Mütter. Staatliche Bildung und Erziehung erfolgten ganz im Sinn der NS-Ideologie. So stellte eine Mathematikaufgabe in der Schule die Kosten, die ein »Geisteskranker« verursache, den Kosten für Ehestandsdarlehen gegenüber. Beleg für die Vergiftung der Kinder mit rassistischen Ideen sind auch Brettspiele wie »Fang den Juden« und Kinderbücher wie »Der Giftpilz«.
Von klein auf wurden die Kinder ihren Eltern entzogen, waren in Jungvolk, Hitlerjugend (HJ) bzw. Jungmädel und Bund Deutscher Mädel (BDM) organisiert, taten Dienst. Freies Spielen und selbstständiges Denken waren nicht erwünscht. Konflikte in der Familie waren programmiert, wenn die Eltern anders dachten als es die HJ oder die Schule vorgaben. Die Zeit, die die Familie zusammen verbringen konnte, sank erheblich. Dramatisch sank das Bildungsniveau.
Hitler selbst äußerte in einer Rede 1938: »Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln … Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.«
4. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftliche Aufschwung waren weder alleiniger Erfolg der NS-Diktatur, noch ohne die Planung, Vorbereitung und Durchführung des Krieges möglich. Der Lebensstandard der Bevölkerung stieg nicht, sondern sank.
Bereits unter Reichskanzler Brüning waren Maßnahmen zur Bekämpfung der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise unternommen worden. Die Talsohle war Ende 1932 erreicht, der Aufschwung musste kommen, egal, wer Kanzler sein würde. Der Haushalt war ausgeglichener als in den Jahren zuvor, auch weil die Reparationsansprüche der Alliierten auf der Konferenz von Lausanne getilgt wurden. Brünings Politik hatte aber zugleich zur Verelendung vieler geführt. Hans Fallada beschrieb die Not in »Kleiner Mann was nun«.
Die Arbeitslosigkeit sank zwar tatsächlich, im Oktober 1933 waren noch 3,7 Millionen Menschen ohne Arbeit, 1937 gar nur noch 0,5 Millionen Arbeitslose registriert. Hier ist jedoch einzurechnen, dass die Frauen massiv aus der Berufstätigkeit gedrängt, Juden ausgegrenzt und etliche Arbeitsplätze durch die Verhaftung Andersdenkender frei wurden. Der ab 1935 als Pflicht zu absolvierende Arbeitsdienst und die wiedereingeführte Wehrpflicht taten ihr Übriges.
Die Investitionen des Staates stiegen für die Wehrmacht von 0,6 Milliarden RM 1933 auf fast 15 Milliarden 1938. Die Ausgaben für Wohnungsbau hingegen lagen 1938 bei 0,2 Milliarden RM. Im Vergleich dazu: Die Weimarer Republik gab 1928 1,7 Milliarden RM für den Wohnungsbau aus. Unter Hitler stieg die Staatsverschuldung. Betrug sie 1932 rund 11,4 Milliarden RM, so lag sie 1939 schon bei 30 Milliarden und 1945 bei 380 Milliarden (!) RM. Im Kalkül der Nazis sollte Europa für Deutschlands Schulden aufkommen.
Auch gab es im NS-Staat Inflation. Das Lohnniveau sank bis 1935, stieg zwar dann ein wenig an, die Lebenshaltungskosten wiesen jedoch eine stärkere Aufwärtskurve aus. Hinzu kam, dass Abzüge und »freiwillige« Spenden (Winterhilfswerk, Beiträge für die DAF, KdF, die NS-Berufsverbände etc.) den Reallohn schmälerten. Die Renten wurden gesenkt – und dies bei steigenden Preisen. Richtig ist, dass es in Deutschland nach 1933 bezahlten Urlaub für Arbeiter gab, ein Ziel der Arbeiterbewegung schien erreicht. Drei bis sechs Tage Urlaub (in manchen Fällen sogar zwölf) wurden gewährt, jedoch nur bis Kriegsausbruch. Zu beachten ist auch, dass das Geld für die angebotenen preiswerten Urlaubsreisen und sonstigen Freizeitangebote nicht vom Staat stammten, sondern aus dem beschlagnahmten Vermögen der im Frühjahr 1933 zerschlagenen Gewerkschaften, den Spargroschen der Arbeiter, ihren Mitgliedsbeiträgen für DAF oder KdF. Bei den noch heute gepriesenen KdF-Schiffen wird vergessen, dass diese weitaus mehr Einsätze als Truppentransporter bzw. schwimmende Lazarette denn als Urlaubsschiff hatten und größtenteils aus den Geldern der Arbeitenden finanziert worden sind – Aufrüstung unter dem Deckmantel von Urlaubsbeschaffung.
Bedenkenswert ist der ebenfalls oft ignorierte Fakt, dass in Deutschland bereits 1937/38 Lebensmittelrationierungen eingeführt wurden. Im Ersten Weltkrieg geschah dies erst ab Winter 1916. Landwirtschaftliche Nutzflächen wurden reduziert, zu Gunsten des Baus von Autobahnen oder des Westwalles. Die Qualität der Lebensmittel sank, dem Brot wurden per Verordnung Beigaben zugemischt. Ein Bäcker, der dagegen verstieß, galt als Saboteur, ein Käufer, der sich beklagte, hatte mit Strafen zu rechnen. Die Mädchen lernten im Haushaltunterricht schon 1936/37 gassparend und mit Eiersatz zu kochen bzw. zu backen. Dr. Oetker lieferte ein passendes Kochbuch. Generell verschlechterte sich die Ernährung der Bevölkerung, Mangelerscheinungen nahmen vor allem bei Kindern zu.
5. Der Bau der Autobahnen ist keine originäre Idee des NS-Staates. Die Nazis übernahmen sie, weil sie die Infrastruktur für den Krieg ausbauen wollten.
Bereits 1926 war ein Verein zur Förderung von »Nurautostraßen« gegründet worden. Ab 1929 setzte sich der Name Autobahn durch, aufgebracht von Robert Otzen, dem Vorsitzenden des Vereins. Die erste Strecke, über 20 Kilometer von Köln bis Bonn, wurde 1932 eröffnet. Das Projekt hatte sich wegen der Weltwirtschaftskrise verzögert. Zudem gab es keinen zwingenden Grund für Autobahnen, besaßen doch um 1930 nur 0,27 Prozent der Deutschen ein Auto (in den USA 18,6).
Unter Kanzler Hitler wurden Autobahnen als »Straßen des Führers« propagiert. Bis 1938 wurden 3000 Kilometer fertig gestellt. Die Einweihung einzelner Abschnitte geriet immer wieder zu einem Propagandaspektakel. Hitler ließ sich in seinem Mercedes, begleitet von großer Eskorte, chauffieren; die Bevölkerung, insbesondere BDM und HJ, jubelten ihm vom Straßenrand zu. Die Leitung über den Autobahnbau hatte Generalinspekteur Fritz Todt inne, der über »Die Fehlerquellen beim Bau von Landstraßendecken aus Teer und Asphalt« promoviert hatte. Eingesetzt wurden Arbeitslose und der RAD. Und schon bald rollten auf den Autobahnen die Panzer …
Fazit: Auch wenn man sich nur auf Alltag, Familie, Soziales konzentriert, wird das Verbrecherische des NS-Regimes deutlich. Gute Seiten der NS-Diktatur sind selbst für die Jahre 1933 bis 1938 nicht nachzuweisen. ·
Unsere Autorin lehrt am Kolleg in Freiberg, hat u. a. über Friedrich Wolf geforscht und ist Autorin von Hörspielen und Theaterstücken.
ND-ePaper – die digitale Ausgabe von Neues Deutschland
ePaper – 26. Januar 2008