Die fatale Illusion

Julius H. Schoeps über Hoffnungen, Judenhass und Unerklärliches

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Zu seinen Ahnen gehört der Aufklärer Moses Mendelssohn, den Lessing in seinem »Nathan« verewigte. An der Potsdamer Universität hat Julius H. Schoeps das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien ins Leben gerufen, zu dessen vielen verdienstvollen Projekten auch die »Bibliothek verbrannter Bücher« gehört, die als »lebendes Mahnmal« in Oberschulen und Gymnasien gebracht werden soll. Mit dem Professor, Gründungsdirektor des Forschungsinstitut für deutsch-jüdische Geschichte in Duisburg, des Jüdischen Museums in Wien und der Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt sowie Mitglied in diversen gesellschaftlichen Gremien, sprach Karlen Vesper.
Fotos: dpa/ND-Archiv

• Schon am 1. April 1933 gab es den »Judenboykott«, sechs Tage später folgte das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, das vor allem Juden traf. Überraschend kam das alles nicht.

Was mit den Juden in Deutschland geschehen sollte, wenn die Nazis erst einmal an der Macht sein würden, stand schon in Programmen der NSDAP der 20er Jahre und in Hitlers »Mein Kampf«. Nur, die Mehrheit der deutschen Juden rechnete natürlich nicht damit, dass es so kommen würde. Und vielfach, typisch für das deutsch-jüdische Milieu, dachte man: Die Hitlers kommen und gehen.

• Dachten so auch Ihre Eltern?

Mein Vater hat sich zu Deutschland und dem Deutschtum bekannt, er definierte sich als Jude, Preuße und Konservativer. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Staat Unrecht zulässt oder gar, dass vom Staat Unrecht ausgehen kann. 1933 und noch 1934 glaubte er, das Gespräch mit den NS-Machthabern suchen zu müssen. Er schrieb einen Brief an Hitler, um ein Bleiberecht der deutschen Juden auszuhandeln. Eine Antwort hat er natürlich nicht erhalten.
 Meine Eltern dachten wohl wie viele: Abwarten, es wird schon nicht so schlimm kommen. Dann aber wurde mein Vater nicht mehr zum Schuldienst zugelassen. Er half sich, indem er einen Verlag aufmachte. Erst als die sogenannten Nürnberger Gesetze, die Rassengesetze, erlassen wurden, wich die Hoffnung, es würde sich schon irgendwie regeln, einer schmerzlichen Ernüchterung. Meine Mutter emigrierte 1937 erst in die Schweiz, dann nach Schweden. Mein Vater verließ Deutschland Dezember 1938. Im schwedischen Exil lernten sie sich dann kennen.

• Ihr Vater hat noch die Reichspogromnacht miterlebt?

 Hautnah. In seinen Erinnerungen hat er beschrieben, wie die Menschen dastanden und schwiegen. Er entschloss sich zur Ausreise, weil er wusste, dass er auf einer Liste von 100 Personen stand, die nach dem Willen der Nazis Deutschland nicht verlassen sollten. Freunde im Auswärtigen Amt, u. a. Werner Otto von Hentig, der in der Nahostabteilung arbeitete, Vater des später namhaften Pä-dagogen Hartmut von Hentig, hat meinem Vater die notwendigen Papiere verschafft, mit denen er dann am Weihnachtsabend 1938 Deutschland verlassen konnte

• Warum sind die Großeltern nicht mitgegangen?

Mein Vater wollte sie aus Deutschland rausholen, das ist ihm aber nicht mehr gelungen. Bei den Stockholmer Behörden, wo er um Hilfe nachsuchte, zuckte man nur mit den Schultern. Außerdem hat mein Großvater väterlicherseits jeden Gedanken an Auswanderung von sich gewiesen. Er war Arzt und Monarchist. Die Republik von 1918 war nicht nach seinem Geschmack, dennoch verurteilte er jedes illoyale Verhalten. Seine Militärzeit hat er als »Einjährig Freiwilliger« absolviert. Es muss ihn hart getroffen haben, als er im Oktober 1933 einen Brief bekam, in dem ihm erklärt wurde, er habe als »Nichtarier« den Verein ehemaliger Regimentskameraden zu verlassen. Und obwohl ihm schon die Approbation entzogen worden war, er und seine Frau die Namen »Israel« und »Sarah« tragen mussten, glaubte er bei Kriegsausbruch, September 1939, seiner staatsbürgerlichen Pflicht nachkommen und sich freiwillig melden zu müssen. Er war damals 75 Jahren alt. Ein groteskes Missverständnis.

• Die Großeltern wurden dann deportiert?

Nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich, dem stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, am 4. Juni 1942 in Prag, sind in Berlin 500 Juden zusammengetrieben, die Hälfte auf der Stelle erschossen, die anderen deportiert worden – darunter mein Großvater. Meine Großmutter wollte ihn nicht allein lassen, begleitete ihn nach Theresienstadt, wo er dann bald starb – aber nicht, ohne vorher noch von meiner Geburt erfahren zu haben. Meine Großmutter ist am 18. Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und wohl gleich »ins Gas« geschickt worden.

• Und die Eltern Ihrer Mutter?

Sie waren auch konservativ eingestellt. Felix Busch war ein königlich-preußischer Landrat. Er hörte nicht auf seine Freunde in England, die ihn zur Ausreise überreden wollten. »Einen alten Baum verpflanzt man nicht«, pflegte er zu sagen. Er hat sich im Sommer 1938 das Leben genommen. Kurz zuvor soll er ein Gespräch geführt haben mit Johannes Popitz, der später zum Kreis der Hitler-Attentäter gehörte und in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden ist. Dieser deutete an, dass noch brutalere Maßnahmen gegen die Juden bevorstünden.

• Sie wuchsen in Uppsala auf. Was bekamen Sie mit, von dem, was den Juden angetan wurde?

Nicht viel. Darüber wurde nicht geredet. Natürlich konnten sich meine Eltern aus Zeitungsberichten und Erzählungen anderer Emigranten einiges zusammenreimen. Aber es waren allenfalls böse Ahnungen, die sie quälten.
• 1947 ist Ihr Vater nach Deutschland zurückgegangen …

Er ging zurück, weil er ein neues Deutschland mit aufbauen wollte. Er hatte übrigens zunächst, 1946, einen Ruf nach Leipzig erhalten, auf den Lehrstuhl von Joachim Wach, einem bedeutenden Religionswissenschafter. Ich habe mich später oft gefragt: Wäre ich in Leipzig aufgewachsen, was wäre aus mir geworden? Vielleicht wäre ich vor 1961 in den Westen gegangen? Oder nach 1961 über die Mauer geklettert? Vielleicht wäre ich auch LPG-Vorsitzender geworden. Die Würfel im Leben fallen manchmal sehr merkwürdig.

• Ihr Vater bekam einen Lehrstuhl in Erlangen. Sie wurden dort eingeschult, dann aber auf ein Internat geschickt – ausgerechnet auf dem Obersalzberg, wo einst Hitlers Domizil war?!

Und das anderer Nazigrößen. Das Internat, das ich besuchte, war im ehemaligen Pferdestall von Martin Bormann, dem Chef der NS-Kanzlei, untergebracht. Ich weiß nicht, warum mein Vater mich ausgerechnet auf den Obersalzberg geschickt hat. Noch verrückter war, dass ich die Schulbank mit Kindern von NS-Größen drückte. Zeitweilig wohnte ich in einem Zimmer mit dem Sohn des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß und dem des Vertriebenen-Ministers Theodor Oberländer, der in der NS-Zeit Ostforschung betrieb, für eine ethnische Neuordnung Osteuropas, ohne Juden.

• Wie konnten Sie es in solcher Umgebung aushalten?

Kindliche Unbefangenheit. Wir kletterten in den Bergen, fuhren Ski und verhielten uns wie Jugendliche in diesem Alter sich eben verhalten. Die NS-Vergangenheit spielte damals für mich noch keine Rolle. Es kam hinzu, dass in der Familie lange darüber geschwiegen wurde. Selbst meine Tante Ella, die sich um mich kümmerte, als ich aus Schweden nach Erlangen kam, sprach nicht über das, was ihr widerfahren ist. Sie war der Deportation nur deshalb entgangen, weil sie in Württemberg von einem Pfarrhaus in das nächste geschleust worden war. Ihre Tochter Susi ist auf dem Dachboden eines Hauses in Kladow, einem Vorort von Berlin, versteckt worden. Es hat Helfer gegeben, aber leider viel zu wenige. Als ich dann allerdings Jahre später Wolf-Rüdiger Heß wiederbegegnete, da merkte ich, dass uns Welten trennten. Er hat die Schuld seines Vaters nicht verarbeitet, sprach später auch, 1987, vom Mord an seinem Vater, dem letzten Insassen im Alliierten-Gefängnis in Spandau.
Was mich jedoch viel mehr berührte, war, in den 90er Jahren zu erfahren, dass der gefeierte Literaturwissenschaftler Hans Schwerte, dessen Vorlesungen ich als Student in Erlangen besuchte und der mit uns damals Theaterstücke einstudierte, eigentlich Hans Ernst Schneider hieß, SS-Hauptsturmführer war und in Himmlers »Ahnenerbe«-Referat eine hohe Stellung hatte. Mir ist unverständlich, dass niemand seine wahre Identität gekannt haben will.

• Botschaft Ihrer vielen Bücher ist: Es hätte nicht zur Katastrophe, zur Shoah, kommen müssen. Woher nehmen Sie diese Gewissheit?

Weil es in der Geschichte keine Zwangsläufigkeit gibt. Die Behauptung, es gäbe eine antijüdische Kontinuität in Deutschland von Luther über Bismarck zu Hitler, ist reiner Schwachsinn. Es gibt immer bestimmte Konstellationen, nach denen es so oder anders kommt.

• Und warum ist es in Deutschland »so gekommen«?

Das ist meines Erachtens auf eine Kombination von Faktoren zurückzuführen. Zum einen gab es relativ wenig Demokraten in der Weimarer Republik. Zum anderen waren da Inflation, die hohen Reparationskosten, schließlich die große Wirtschaftskrise mit all ihren sozialen Folgen, Arbeitslosigkeit, Proletarisierung des Mittelstandes etc. Alle diese Faktoren haben die Katastrophe bedingt.

• Hat es in der deutschen Geschichte überhaupt eine Zeit gegeben, in der Nicht-Juden und Juden friedlich zusammenlebten und respektvoll miteinander umgingen?

Die deutsch-jüdische Geschichte ist eine Geschichte des stetigen Auf und Ab. Es gab Phasen des Miteinanders und des Gegeneinanders. In der 1848er Revolution z. B. träumten Juden und Nicht-Juden den gemeinsamen Traum von einer freien und gleichen Gesellschaft.

• Das Judenedikt von 1812 in Preußen hatte nicht die erhoffte Emanzipation gebracht, nur formale Gleichberechtigung, dekretiert von oben. In eben diesem Säkulum, Ende des 19. Jahrhunderts, wurde auch die Ideologie des mörderischen Antisemitismus begründet. Gibt es da einen Zusammenhang?

Die Anfänge des modernen Antisemitismus mit seiner bestialischen, mörderischen Note liegen tatsächlich im 19. Jahrhundert. Das Bürgertum ging den Rattenfängern auf den Leim. Es waren die Parolen des Hofpredigers Adolf Stöckers, die Hasstiraden des Historikers Heinrich von Treitschke, von dem das Unwort stammt: »Die Juden sind unser Unglück.« Sie waren es, die den Boden bereiteten, sie machten das Bürgertum anfällig für die Parolen der Nazis.

• Hitlers »Lehrer« waren ein Franzose und Brite mit ihren Theorien von der »arischen Herrenrasse«: Arthur de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain. Aber weder in Frankreich noch in Großbritannien gab es solch brutalen Antisemitismus wie in Deutschland. Wie erklärt sich das?

Vielleicht liegt das auch am deutschen Charakter, der Deutschen Neigung zu Gehorsam und zu Perfektion, in allem, was sie tun.

• Sind Faschismus und Shoah mittlerweile vollends erforscht?

Ich bin überzeugt, dass ein Rest Unerklärbarkeit bleiben wird. Wie konnte ein Volk dorthin gelangen, dass es alle Werte und Normen über Bord warf, auf die es so stolz war? Da bedarf es noch anderer Erklärungsmodelle als jener, die wir bisher haben. Ich bin der Ansicht, dass wir es beim Nationalsozialismus mit einer Art politischen Religion zu tun haben. Hitler hat auf dieser Klaviatur brillant gespielt. Man denke nur daran, dass er sich selbst als »Erlöser« inszeniert hat, als derjenige, der Deutschland und die Deutschen befreien und ans Licht führen will.

• Sie haben unzählige Monographien, Handbücher, Biografien verfasst, u. a. über Theodor Herzl. Wenn man auf die unendliche Leidensgeschichte in Nahost schaut, inwieweit ist seine zionistische Idee heute noch zeitgemäß?

Es ist schwierig, darauf zu antworten. Ich habe mich schon sehr frühzeitig mit der Frage beschäftigt, wie und warum der junge Theodor Herzl, ein typischer Wiener Jude, der zunächst der Assimilation zuneigte, ein Zionist werden konnte. Zunächst erwog er unterschiedliche Lösungsmodelle für die »Judenfrage«; zeitweise meinte er, sie sei vielleicht über den Weg des Sozialismus zu lösen. Nach dem Prozess gegen den jüdischen Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus in Frankreich wurde ihm klar, dass eine Assimilation oder Akkulturation der Juden gar nicht gewünscht war. Und da begann er, seinen »Judenstaat« zu schreiben. Theodor Herzl hatte das »Glück«, relativ jung, bereits mit 44 Jahren, zu sterben. Zwei oder drei Wochen vor seinem Tod hat er an seine Nachfolger in der zionistischen Vereinigung einen Brief geschrieben, in dem der ominöse Satz steht: »Machet keinen Unsinn, während ich tot bin.« Über diesen Satz ist viel spekuliert worden.

• Wie legen Sie ihn aus?

Bezogen auf den Umgang der Juden miteinander und den Umgang mit den Palästinensern.

• Ist die »Judenfrage« heute mit dem Staat Israel gelöst?

Ich könnte da mit Alex Bein antworten, der 1933 seinem Chef, dem Direktor des Reichsarchivs in Potsdam, erklärte: »Ich werde den Staub Deutschlands von meinen Schuhen abschütteln und nach Palästina gehen.« Er gehörte zur Gründergeneration des jüdischen Staates. Ich hatte das Glück, ihn, hochbetagt, in Israel noch kennenzulernen und mit ihm Herzls Briefe und Tagebücher herauszugeben. Er meinte, die Judenfrage werde es solange geben, solange das tradierte historische Judenbild das Denken der Menschen bestimme. Und in Abwandlung eines Satzes von Karl Marx sagte er: »Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft von ihrem Judenbild.«

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ePaper – 26. Januar 2008