Die Gunst der Stunde

Wie Hitler an das Staatsruder kam – für die Eliten kein Maßanzug, aber tragbar

Von Kurt Pätzold

Bevor viele Deutsche im Nachkrieg die ersten Brocken der englischen Sprache lernten und ihnen der Begriff Bestseller geläufig wurde, war ein Buch dieses Typs schon auf den deutschen Markt gelangt. Max Fechners »Wie konnte es geschehen?« Angesichts der Knappheit von Druckmaschinen und Papier mutet es sensationell an, dass das Bändchen in mehreren Auflagen und 300 000 Exemplaren erscheinen konnte. Seine im Titel formulierte Frage beschäftigte offenkundig eine beträchtliche Minderheit von Deutschen, die sich über das Erlebte klar zu werden suchte und sich auf neue Wege begab.
Die Suche nach Antworten, die den Aufstieg des deutschen Faschismus erklären und verstehbar machen, hält bis heute an. Die Zeit der allzu einfachen (unerforschliches Schicksal, Betriebsunfall in deutscher Geschichte, die Magie des Adolf Hitler u. a.), die, statt Erkenntnisse zu vermitteln, Gedankenbarrieren aufrichteten und auch schon das Interesse bedienten, die Sprache nicht auf den eigenen Anteil zu bringen, liegt hinter uns. Wo aber sind wir inzwischen hingeraten? In einen Nebel multikausaler Erklärungen und zur bunten Aufzählung von Voraussetzungen, Bedingungen, objektiven und subjektiven Faktoren, die auf den Weg hin zum 30. Januar 1933 führten.
Das Geschehen wird übrigens immer weniger beim Namen genannt, sondern vorzugsweise mit Metaphern bezeichnet: der schwärzeste Tag oder das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, Eintritt in das Reich des Bösen und Anfang vom Untergang. Die Gewichtung der Faktoren jedoch unterbleibt. Wer oder was letztlich den Ausschlag dafür gab, dass Hitler in die Reichskanzlei einziehen konnte, bleibt unergründet. Geboten wird eine Melange von Umständen, Beteiligten, Verantwortlichen, Schuldigen. Dabei ist dem Historiker, wenn er auch kein Gerät besitzt, das der Apothekerwaage vergleichbar wäre, doch gegeben, quantitative Unterscheidungen zu treffen. Sie unterbleiben, wenn sie nicht gewollt werden.
Der Führer der deutschen Faschisten wäre eine für die republikfeindlichen deutschen Eliten, Industrielle, Bankiers, große Grundbesitzer und Militärs, gänzlich uninteressante Figur geblieben, hätte er das Elend und die Ängste von Kleinbürgern, werktätigen Bauern, Angestellten und auch von vornehmlich jungen Arbeitern nicht in seine politische Münze schlagen können. 13 Millionen Anhänger im Sommer 1932, das waren ein Argument und ein verlockendes. Diese Millionen waren von den braunen Demagogen gedanklich und emotional strikt gegen die Republik von Weimar ausgerichtet worden, die ihnen als »Systemzeit« und »Judenrepublik« herabgesetzt und für unfähig erklärt wurde, die Lage der Massen zu wenden.
Hitler, unterstützt von seinen Mit-»Führern«, kannte keinen Skrupel, sich als den »Retter« und »Erlöser« zu präsentieren. Auf den Wahlplakaten der NSDAP stand »Es reicht« oder ebenso schlicht »Schluss jetzt«. Mit dieser Partei ließ sich der Republik der Garaus machen und zwar mit der Zustimmung von Massen, eben jener Mitglied- oder Wählerschaft der NSDAP. Mit ihr konnte das unter Umständen – von denen der wichtigste die Spaltung der Arbeiterparteien war – gelingen, ohne dass es zu harten innenpolitischen Kämpfen oder gar zum Bürgerkrieg kam.
Angesichts dieser Möglichkeit lässt sich fragen, warum Hitler nicht schon im Sommer 1932, wie er und seine Anhänger gehofft hatten, von Paul von Hindenburg zum Reichskanzler berufen worden war. Die Antwort lautet: Zum einen, weil der Klärungsprozess innerhalb der Führungsschichten noch nicht weit genug getrieben worden war, und das wiederum – zum anderen – besaß zu einem Teil seinen Grund in Vorbehalten, die sich in das Bewusstsein von der Tauglichkeit dieser politischen Führungsgruppe mischten. Erfahrungen ihrer Zuverlässigkeit fehlten, ausgenommen die wenigen, die mit Nazi-Ministern in Regierungen deutscher Länder gesammelt worden waren, von denen Thüringen das größte war. Wie – das blieb die Frage, auf die nur die Praxis eine Antwort geben konnte – würden sich diese Emporkömmlinge eines neuen Typs verhalten, wenn sie, an das Staatsruder gestellt, unter den Druck der mit Versprechungen und Erwartungen vollgestopften eigenen Anhänger gerieten? Würden sich die Zusagen ganz anderer Art, die Hitler bei Zusammentreffen mit Wirtschaftsführern und auch mit Großgrundbesitzern diesen gemacht hatte, einhalten lassen? Das Risiko ließ sich vorab nicht aus der Welt schaffen.
Gegen Ende 1932 waren die denkbaren Alternativen für eine Lösung ohne Hitler aufgebraucht, ausgenommen die Etablierung einer Militärdiktatur. Darauf reagierten Massen erfahrungsgemäß mit Gegenbewegungen und in Kreisen der Generalität herrschte die Neigung vor, in innenpolitische Konfrontationen nicht hineingezogen zu werden, sondern die eigenen Kräfte ganz und unbeschädigt auf künftige außenpolitische Aufgaben auszurichten. So stieg Hitlers Kurswert, wenngleich viele seiner Anhänger – insgesamt zwei Millionen – der Fahne mit dem Hakenkreuz im zweiten Halbjahr 1932 wieder den Rücken gekehrt hatten.
Was manchen Faschistenführern als Wunder erschien und den Massen später wieder und wieder so dargestellt wurde, war in Wirklichkeit aus dem Entschluss einer Minderheit von Politikern und Wirtschaftsführern geboren, die Gunst der Stunde nicht zu verpassen und die Nazis jetzt an die Macht zu lancieren. Das ist der Hintergrund jener inzwischen anhand von Dokumenten und Zeugenaussagen in ihren Etappen und Schritten entschlüsselten Intrige, an deren Ende Hitler die Berufungsurkunde aus der Hand des Reichspräsidenten erhielt. Dass die an ihr Beteiligten eigene Interessen verfochten, ist unbezweifelbar und war nichts weniger als außergewöhnlich.
Franz von Papen, eben noch Reichskanzler, wollte nicht auf seinem saarländischen Gut privatisieren, sondern zurück ins Zentrum der Macht. Er wurde an Hitlers Seite Vizekanzler. Alfred Hugenberg, Vorsitzender der Deutschnationalen Partei, drängte ebenso ins Licht der großen Politik. Er stieg zum Doppelminister für Industrie und Landwirtschaft auf. Hjalmar Schacht, aus eigenem Entschluss Präsident des Reichsbankdirektoriums a. D., sah seine Zukunft auch nicht auf seinem Gut im Brandenburgischen. Er kehrte an seinem Platz zurück und trat eine Karriere an, die ihn bis auf den Platz des Generalbevollmächtigten für die Aufrüstung führte. Otto Meißner, Hindenburgs Staatssekretär, der auf diesem Platz schon dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert gedient hatte, wollte Platz auch unter Hitler behalten. Das erreichte er.
Nur erschöpften sich diese Interessen nicht in eigenen Rechnungen. In diesem Fall wären ihnen ihre Klassen- und Standesgenossen in den Arm gefallen. Dass sich hingegen aus deren Reihen keine Kraft regte, die Intrige zu durchkreuzen, charakterisiert die Tatsache, dass die einflussstarken Kreise der deutschen Eliten, diejenigen eingeschlossen, die sich persönlich politisch nicht exponierten (sie bildeten wie heute die Mehrheit), jedenfalls mit der Republik von Weimar abgeschlossen hatten. Sie wollten – wie zur Vermeidung des Begriffs von den »Totengräbern der Republik« meist geschrieben wird – eine »autoritäre Lösung«. Hitler war ihnen nicht das, was sie einen Maßanzug genannt haben würden, aber, um im Bilde zu bleiben, gut tragbar.
Später, als die zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reiches« vorüber waren, werden sie ihre Abneigung gegen ihn übertreiben und erklären, sie hätten keine andere Wahl gehabt, um die angeblich drohende bolschewistische Revolution zu bannen. So ließen sie ihre Tat unausgesprochen als Errichtung eines Schutzwalls erscheinen, der doch auch ihresgleichen in Frankreich, Großbritannien und in weiteren Ländern des Kapitals zugute gekommen sei. Sollte sich diese Lesart durchsetzen, steht den Deutschen die Errichtung einiger Denkmäler noch bevor, über die sie sich die Augen reiben werden. Denn Antikommunismus in nahezu jeder Version ist »in«.

Von Prof. Pätzold, Faschismusforscher in Berlin, Autor zahlreicher Bücher zum Thema, erscheint demnächst »Die Geschichte kennt kein Pardon. Erinnerungen eines ostdeutschen Historikers«.

Mit dem Segen der alten Elite
Fotos: ND-Archiv; Bergschicker-Chronik