… kein Einbrecher in der Nacht
HANNES HEER über den Wunschkandidaten Hitler und das bleibend Unbegreifliche
HANNES HEER
geb. 1941, Historiker, Filmregisseur. Gestalter der ersten Hamburger Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945«. Bücher u.a.: »Hitler war’s«, »Vom Verschwinden der Täter«.
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• Hannes Heer, waren die Deutschen 1933 Hitlers erstes Opfer?
Nein. Bei den Septemberwahlen 1930, als in Deutschland noch frei gewählt werden konnte, haben sich von 35 Millionen Menschen immerhin sechseinhalb Millionen für Hitler entschieden. Bei den Juli-Wahlen zwei Jahre später kamen die Nazis auf ein Drittel der Reichstagssitze. Bei fast allen Landtagswahlen wurde die NSDAP stärkste Fraktion. Die März-Wahlen 1933 waren dann schon demokratisch stark eingeschränkte Wahlen, die Kommunisten etwa wurden bereits verfolgt, verhaftet – aber immerhin erreichten die Nationalsozialisten 44 Prozent, und gemeinsam mit den Deutschnationalen kam man auf 52 Prozent. Das zeigt doch: Hier hat ein Volk in großer Masse und klaren Wissens jenes politische Programm gewählt, für das die Nationalsozialisten standen. Da kann man nicht von Opfern reden. Hitler war der Wunschkandidat von vielen Millionen und nicht ein Einbrecher in der Nacht, der die Hausbewohner als Geiseln genommen hat.
• Wer Hitler wählt, wählt den Krieg! Die Wahrheit war also, etwa als Prognose der Kommunisten, in der Welt. Ganz einfach gefragt: Was konnten die Deutschen 1933 wissen, und warum galt diese Wahrheit so wenigen etwas?
Diejenigen, die Hitlers »Mein Kampf« gelesen haben – das Buch war frei zugänglich – haben gewusst, was bevorstand. Wer sich informieren wollte, konnte sich informieren. Hitler hat vielleicht bezüglich der Methoden viel verschwiegen, aber bezüglich seiner Ziele hat er sich brutalst ehrlich ausgedrückt.
• Was konnte die große Mehrheit wissen, die nicht in die Buchhandlungen ging?
Sie wusste, dass die NSDAP total demokratiefeindlich war. Sie wusste, dass diese Partei antikommunistisch und antisemitisch war. Schon Anfang der dreißiger Jahre, gleichsam noch abseits der großen Politik, wurden in vielen Theatern und Opernhäusern die Leitungen ausgewechselt – jüdische oder mit Juden »versippte« Intendanten verloren ihre Posten. Im Preußischen Landtag wurde im Juni 1932 der Antrag gestellt, den Anteil jüdischer und ausländischer Mitarbeiter an den Preußischen Staatstheatern festzustellen und diese Leute zu entfernen. Der Antrag bekam eine Mehrheit. Und nicht zuletzt wusste jeder im Land, dass die Nazis eine Partei des Krieges war. Wenn die Masse der Wähler dies alles weiß und die Nazis in die Macht hineinwählt, dann ist das eine bewusste Richtungsentscheidung.
• Linke Geschichtsschreibung sagt, Hitlers wichtigster Verbündeter sei das Monopolkapital gewesen. Welche Zuarbeiter-Rolle spielte die deutsche Angst vor allem Linkem?
Die Deutschen haben seit eh und je eine panische Angst vor Revolutionen. Schon der einmarschierende Napoleon wird nicht als Eroberer und Besatzer gesehen, sondern als bewaffneter Exporteur der Französischen Revolution. Gegen deren Modell einer aufklärerischen, an universellen Menschenrechten orientierten Zivilisation setzt man eine aus Blut und Rasse gespeiste »deutsche Kultur«. Die dann entstehende deutsche Arbeiterbewegung verstärkt diese Angst, weil sie das Schreckbild des Internationalismus enthält: »Völker, hört die Signale!« Das große Feindbild »Links« ist von da an nicht mehr auszutreiben. Viktor Klemperer schreibt in seinen Tagebüchern über die ungeheure Angst der Massen vor einer Bolschewisierung Deutschlands.
• Wieso konnte es zum fatalen Bündnis zwischen einem wie Hitler und dem gebildeten Deutschland kommen?
Es hat lange gebraucht, bis aus dem Fleckenteppich deutscher Duodezfürstentümer und Stämme ein Staat, ein politisch zentral verwaltetes Gebilde wurde. Als Folge dieser verspäteten Nation-Werdung blieben eine kollektive Angst, von internationalen Reichsfeinden zerrissen und zerstückelt zu werden, und ein übersteigerter Nationalismus. Zum anderen hatte sich das deutsche Bürgertum sehr früh entschieden, ein festes Bündnis mit Bismarck einzugehen, also mit der halbfeudalen Macht und somit der politischen Reaktion – im Gegensatz zu europäischen Nachbarstaaten, in denen das Bürgertum nicht nur für ökonomischen, sondern auch für politischen Fortschritt eintrat. Als 1918 die Großmachtträume zerplatzt waren und das Reich anscheinend wieder zum Spielball anderer geworden war, schien der Nationalsozialismus mitsamt allem, was sich an völkischen und national gesinnten Gruppierungen hinter ihm sammelte, eine letzte Möglichkeit zu sein, Deutschland zu retten und endgültig als Weltmacht zu etablieren.
• Das Reaktionäre als genetisches Mitgift verfehlter Charakterbildungen?
Klemperer schreibt schon 1933: »Alle haben Angst um ihr Brot, ihr Leben, alle sind so entsetzlich feige.« Und als Dietrich Bonhoeffer den Zusammenbruch von 1933 analysierte, schrieb er, dass dem deutschen Bürgertum innere Selbstständigkeit, Zivilcourage, Verantwortungsgefühl gefehlt hätten. Das sind Defekte mit Vorgeschichte – Gehorsam anstelle von Autonomie, Schamkultur anstelle von Schuldkultur.
• Schamkultur?
Also: Nie ist das eigene Gewissen der Richter, sondern: Der Nachbar, die Gesellschaft, der Staat sagen, was richtig ist. Klemperer hat an einer Stelle so wunderbar traurig notiert, diese Generation um ihn herum sei unglaublich müde, sie wolle jemanden, der sie führe und ihr alles Schwere abnehme.
• Es gibt einen Aphorismus von Horst Drescher: »Wir wissen fast alles über die Zeit von 1945 bis 1933, aber sehr wenig über die Zeit von 1933 bis 1945.« Also: Im nachhinein ist immer alles klar. Unbekannt bleibt uns auch das Mähliche, das in die Katastrophe treibt. Gibt es für Sie noch das Unerklärbare? Für jemanden also, der seit langem mit Erklärung und Aufhellung beschäftigt ist?
Das Unbegreifliche bleibt. Für mich besteht es trotz aller Erklärungen in der Frage, wie eine Gesellschaft, die über eine Masse brillanter Intellektueller verfügte, über kulturelle Strahlkraft und große geistesgeschichtliche Traditionen, letztlich so ins Böse kippen konnte.
• Die Nazis hatten ein Gefühl für die Nöte der Menschen.
Natürlich war der Nationalsozialismus, mit einer unglaublichen Perfidie allerdings, auch »gesellschaftskritisch« und hat sich programmatisch auf die berechtigte Unzufriedenheit der Menschen berufen. Bonhoeffer hat das in die Metapher gefasst vom »Satan in Gestalt des Engels des Lichts«. Versailles zum Beispiel – eindeutig war das kein Friedensvertrag, sondern eine Art Kriegs-Friedensvertrag, diktiert vor allem von französischen Interessen. Und auf die Frage, wie Massenarbeitslosigkeit und -elend zu beseitigen seien, hatten die damaligen Parteien keine Antwort. Das waren Phänomene, auf die der Nationalsozialismus mit wirksamer antikapitalistischer Attitüde brillant zu reagieren verstand. Auch die Frustration über den in der ersten Phase der Weimarer Republik tobenden Bürgerkrieg, das Gefühl der erwähnten nationalen Zerrissenheit, daraus erwachsend die Sehnsucht nach Harmonie – dies alles griff Hitlers Propaganda der »Volksgemeinschaft« raffiniert auf. So wie jede Propaganda, will sie erfolgreich sein, immer auf einen realen Kern von kritisierbaren, unhaltbaren Zuständen zurückgreifen muss.
• Sie graben in der Geschichte, Sie leben forschend, gestaltend gleichsam mit den Toten und Untoten, den Wiedergängern des Grauens. Hätte es Sie bei Recherchen je interessiert, mit Hitler zu reden?
Hitler hat mich nie so sehr interessiert. Mir ging es da nicht wie Joachim Fest: Der Bürger verliebt sich quasi in den Anti-Bürger, und bei Fests Interesse für Speer war es dann die Neugier auf den Bürger, der sich in die Grenzenlosigkeit des Erfolgs und dann der Massenverbrechen verliert.
• Thomas Mann schrieb vom »Bruder Hitler«, Heinar Kipphardt von »Bruder Eichmann«. Meine Frage zielte auf den eigenen Anteil, den jeder Mensch auch in jedem Großverbrecher entdecken kann, ja sogar muss.
Wer mich da weit mehr interessierte, war Goebbels, waren manche von diesen Landsknechten im Wehrmachtskittel, die ich noch kennen gelernt habe.
• Was interessierte Sie da?
Diese absolute Macht über Leben und Tod oder diese absolute Überwältigung der Menschen durch eine diabolische Macht der Rede. Ja, man entdeckt da schnell eigene Anteile, und seien sie – zum Glück – nur tief im Verborgenen und nur im ehrlichen Selbstgespräch zugänglich. In jedem Menschen stecken ambivalente Potenziale, deren mögliche Ausschläge zum Guten oder Bösen von vielen subjektiven und objektiven Faktoren abhängig sind. Alles ist eine Mischung aus Fügung und Charakter, von Situationen und eigenem Wesen. Was mich freilich noch weit mehr bewegt, das ist die Rolle der eigenen Familie.
• Ihre Eltern waren Mitläufer?
Mein Vater war NSDAP-Mitglied. Mitglieder einer staatsführenden und verbrecherischen Partei sind keine Mitläufer, sondern Täter.
• Und die Mutter?
Sie war eine sehr katholische, gläubige Frau, die wohl ziemlich gespalten war. Auf der einen Seite die Liebe zu diesem Mann, die sie ein Leben lang durchhielt, andererseits dessen politische Gesinnung, der sie nicht gerade zugetan war.
• Gab es Momente während Ihrer vielen Forschungen, da Sie sagten: Ich kann nicht mehr?
Ja. Gab es immer wieder. Etwa bei der Lektüre von Peter Weiss‘ »Ermittlung«. Oder als ich über die 707. Division in Weißrussland forschte und die Schilderungen las: alles sogenannte einfache Wehrmachtssoldaten, meist ehemalige Gebirgsjäger, die von September 1941 bis April 1942 über 20 000 Juden umbrachten. So etwas hält man nur schwer aus.
• Nichts, was der Mensch tut, kann sinnstiftend sein ohne »innere Erbauung«. Sagt Schiller. Wo liegt bei Ihnen die innere Erbauung – bei so ausdauernder Beschäftigung mit finsterer Geschichte? Selbstloser Dienst an der Menschheit …
Dienst an der Menschheit wird einem schnell überdrüssig und gehört zu den Bilanzen jenseits der eigenen Lebenszeit. Nein, ich forsche und schreibe aus Eigeninteresse. Ich will mich wohlfühlen.
• Paradoxe Antwort.
Und ob! Aber auch wiederum überhaupt nicht!
• Erklären Sie’s.
Wohlfühlen kann ich mich nur in einer Gesellschaft, für die Wahrheit, Urteilsfähigkeit und Aufklärung höchste Güter sind. Der Grund und die Gründlichkeit, mit der sich dieses Land mit der Nazizeit konfrontiert, ist für mich der Maßstab, ob die genannten Güter Allgemeingut geworden sind.
• Und: Fühlen Sie sich wohl?
Mein Eindruck: Die Bilanz ist nicht positiv, wir befinden uns in einem Roll-back in die Fünfziger: Hitler war’s; die Deutschen sind – durch Bomben und Vertreibung – ebenso Opfer des Holocaust wie die Juden; eine Neonazibewegung ist mehr und mehr in der Mitte der Gesellschaft verankert; zudem gelten Ausländer zunehmend als Kriminelle. Eine geglückte Demokratie sieht anders aus.
• »Die geglückte Demokratie«, so heißt ein Geschichtsbuch über die Bundesrepublik. Ein Urteil, das den Tiefstpunkt 1993 zum Ausgangspunkt hat.
Sagen wir’s ganz kurz: halbwegs geglückt, aber höchst gefährdet.
Interview: Hans-Dieter Schütt
ND-ePaper – die digitale Ausgabe von Neues Deutschland
ePaper – 26. Januar 2008